Frankreich gilt 1898 als eines der aufgeklärtesten Länder der Welt. Für Alfred Dreyfus besteht die Welt seit drei Jahren aus einem Felsen, den die Franzosen wegen der feuchten Hitze und den zahlreichen Insekten die Teufelsinsel nennen. Dort vegetiert der ehemalige Offi zier der dritten Republik dahin, hat ständig Fieber, kann kaum noch sprechen. Der katholischmilitärischen Hierarchie auf dem Festland wäre es nur recht, wenn er dort ohne weiteres Aufsehen stürbe. Dreyfus ist in ihren Augen ein deutscher Spion, ein Landesverräter, und außerdem ist er Jude. Antisemitismus ist in Frankreich um die Jahrhundertwende weitverbreitet. »Tod dem Judas, Tod allen Juden«, brüllt die Menge, als Dreyfus öffentlich degradiert wird.
Schon bald kommen Zweifel an Dreyfus’ Schuld auf. Doch zur Volksaffäre, die Frankreich spaltet, Familien zerreißt und Karrieren zerbricht, macht sie 1898 ein Zeitungsartikel. Autor ist Emile Zola, der berühmteste Schriftsteller der damaligen Zeit. »J’accuse« (»Ich klage an«) steht in großen Lettern auf der ersten Seite der Zeitschrift »L’Aurore«. Darunter wendet sich Zola direkt an Staatspräsident Felix Faure und stellt die gesamte Staatsräson samt der korrupten Militärs an den Pranger, indem er alle Beteiligten beim Namen nennt. Der Artikel wird allein in Paris 300.000 Mal gedruckt, eine damals ungeheure Zahl. Zola selbst wird dafür wegen Verleumdung verurteilt und flieht nach England. Doch der Artikelbringt die Wende für Dreyfus. 1899 darf er die Teufelsinsel verlassen, bis zu seiner vollständigen Rehabilitierung dauert es noch sieben Jahre. Zola ist da schon tot, aber sein Engagement gilt bis heute als Paradebeispiel für die Rolle der Presse als vierte Gewalt in einem repräsentativ-parlamentarischen System.
Sie haben keine Waffen, aber trotzdem haben sie Macht
Warum eigentlich Gewalt, und warum vierte? Der Staatstheoretiker Montesquieu sprach im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung erstmals von den drei Gewalten: Judikative (Rechtsprechung), Legislative (Gesetzgebung) und Exekutive (ausführende Gewalt). Sein Zeitgenosse Jean-Jacques-Rousseau bezeichnete die Presse dann als vierte Säule des Systems. Die Medien machen keine Gesetze und schicken auch keine Polizisten los, um sich zu schützen. Aber durch kritische Berichterstattung können sie die anderen Gewalten kontrollieren und die Verhältnisse verändern.
Außerdem dienen sie als Informationsträger der Gesellschaft, damit sich diese als kritische Öffentlichkeit konstituieren und artikulieren kann. Das kann natürlich nur funktionieren, wenn der Staat seinerseits die Medien nicht kontrolliert.
Deshalb war der Kampf für die Pressefreiheit und gegen die staatliche Zensur eines der wichtigsten Ziele der Aufklärung. Die Presse war das entscheidende Instrument für das politisch gebildete Bürgertum, sich untereinander austauschen und auf den Staat einwirken zu können. Das erste Gesetz zur Abschaffung der Zensur wurde 1695 in England eingeführt.
Die Gründungsväter der ersten demokratischen Verfassung, der der Vereinigten Staaten, erkannten, wie fundamental eine freie Presse für eine freiheitliche Demokratie ist. »Wäre es an mir zu entscheiden, ob wir eine Regierung ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne eine Regierung haben sollten, sollte ich keinen Moment zögern, das Letztere vorzuziehen«, schrieb Thomas Jefferson. Die Pressefreiheit wird im ersten Zusatzartikel der Verfassung (First Amendment) sogar garantiert: »Der Kongress wird kein Gesetz erlassen […], das die Freiheit der Rede […] oder die der Presse einschränkt.«
Diese Freiheit machten sich Journalisten und Schriftsteller wie Benjamin Flower, Ida Tarbell oder Upton Sinclair zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunutze. Sie enthüllten durch systematische Recherche schmutzige Geschäfte und Korruption in Wirtschaft und Politik. Der damalige Präsident Theodore Roosevelt bezeichnete sie als »Muckraker« (in etwa »Schmutzaufwühler«, siehe auch Seite 36). Der Name blieb. Die berühmtesten Muckraker brachten später den mächtigsten Mann der Welt zu Fall. Carl Bernstein und Bob Woodward von der Washington Post deckten 1973 im Zuge der Watergate-Affäre die dunklen Machenschaften des Präsidenten Richard Nixon auf, der ein Jahr später zurücktrat.
In Deutschland hatten es die Medien traditionell schwerer, ihre Rolle als vierte Gewalt wahrzunehmen. Das bekam auch Philipp Jakob Siebenpfeiffer zu spüren. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift »Rheinbayern « zierte das Motto: »Die Aufgab' ist Stoff zu bieten, nicht zum Lesen, sondern zum Denken.« 1832 organisierte er die erste deutsche Großdemonstration, als 30.000 Menschen auf das Hambacher Schloss in der Pfalz zogen, um für Freiheit und Demokratie einzutreten. Doch Siebenpeiffer wurde verhaftet und musste in die Schweiz fliehen. Erst 1919, in der Weimarer Republik, wurde das Recht auf eine zensurfreie Presse in die Verfassung aufgenommen. Trotzdem wurde dieses Recht immer wieder durch den Staat ausgehöhlt. Das trat vor allem im »Weltbühne-Prozess« zutage. Nach einem Artikel über die geheime und durch den Versailler Vertrag verbotene Aufrüstung der Reichswehr wurde Carl von Ossietzky als verantwortlicher Redakteur im November 1931 wegen Landesverrats angeklagt und zu 18 Monaten Haft verurteilt.
Unter den Nationalsozialisten war es Joseph Goebbels, der das Potenzial der Medien, vor allem des Radios, als Propagandainstrument erkannte. Die täglichen Pressekonferenzen des Ministeriums für Propaganda und Informationen hatten den Charakter einer Befehlsausgabe. Jeder Journalist, der arbeiten wollte, musste der Reichspressekammer beitreten und seinen Beruf in Einklang mit der nationalsozialistischen Weltanschauung ausüben. In der DDR war das nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wesentlich anders. Artikel 27 der Verfassung garantierte zwar jedem Bürger das Recht, seine Meinung frei zu äußern sowie die Freiheit der Presse. Das Strafgesetzbuch aber stellte »staatsfeindliche Hetze« und den Missbrauch der Medien für die bürgerliche Ideologie unter Strafe.
Zur indirekt kontrollierenden und nicht direkt kontrollierten Instanz konnten die Medien erst mit massiver Geburtshilfe der Alliierten in der Bundesrepublik werden. In Artikel 5 des Grundgesetzes wurde die Pressefreiheit festgeschrieben. Dort heißt es: »Eine Zensur findet nicht statt.« Sorgfältig ausgewählte und überprüfte deutsche Journalisten und Verleger durften nach dem Zweiten Weltkrieg Lizenzen erwerben, Zeitungen machen und in Funkhäusern tätig werden. Die neuen Zeitungen sollten im Idealfall das vollkommene Gegenteil der gleichgeschalteten NS-Presse sein. Nach angelsächsischem Vorbild sollten sie objektive Berichterstattung im Nachrichtenteil bieten und, säuberlich davon getrennt, Meinungsvielfalt auf den Kommentarseiten. Beim Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems nahmen die Briten die Vorreiterrolle ein. Sie gestalteten die neuen Sender nach dem Modell der »BBC«.
Doch richtig heimisch wurde die vierte Gewalt in Deutschland erst 1962. In seiner Titelgeschichte hatte der »Spiegel« die Kampfkraft und Strategie der Bundeswehr analysiert. Ergebnis: Sie wäre im Falle eines Angriffs des Warschauer Pakts nur »Bedingt abwehrbereit« (so der Titel). Angeblich hatte der stellvertretende Chefredakteur Conrad Ahlers dafür geheime Unterlagen verwendet. Für Kanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß war das Landesverrat. Vor allem Strauß, offenbar vom Rachebedürfnis an Spiegel-Gründer und Herausgeber Rudolf Augstein getrieben, den er einen »publizistischen Robespierre « nannte, verrannte sich in die Angelegenheit. Er ließ mehrere Redakteure festnehmen, darunter Ahlers, der extra von Spanien, wo er im Urlaub weilte, ausgeliefert werden musste. Augstein verbrachte 103 Tage in Untersuchungshaft. Die Redaktionsräume wurden durchsucht. Die Parallelen zum Weltbühne-Prozess waren offensichtlich, doch diesmal ging es anders aus. Nach Massenkundgebungen und Protesten fast sämtlicher Medien entschied der Bundesgerichtshof für den »Spiegel«. Strauß, der eigentlich Adenauer als Kanzler beerben wollte, aber im Zuge der Spiegel-Affäre auch das Parlament belogen hatte, musste zurücktreten.