Station 1: Das Trendbüro

Der Zugang zur Zukunft ist gut gesichert. Hinter einer Spezialtür mit Sichtfeld aus Sicherheitsglas liegt das Hamburger Trendbüro, Deutschlands derzeit vielleicht zuverlässigste Adresse für die Frage: Was passiert morgen? Hier, mit Blick auf die Speicherstadt, sitzt ein Haufen junger Menschen mit aufregend gestylten Haaren vor Computern. Sie alle haben ein eigenes Spezialgebiet: Web 2.0, Mode, Design oder auch Haustiere. Ihr Beruf: herausfinden, was die großen Trends der nächsten drei, fünf, zehn Jahre sein werden. Ihre Kunden: Audi, eBay, Otto, Google.

Trends prognostizieren bedeute nicht, die Zukunft zu kennen, erklärt die Geschäftsführerin Birgit Gebhardt, sondern das Verhalten jener Menschen zu analysieren, die heute schon das machen, was in drei, fünf oder zehn Jahren jeder machen wird. Die jüngste Methode, um das zu ermitteln, heißt »Social Media Monitoring«: Je nach Fragestellung werden speziell ausgewählte Blogs, Foren und soziale Netzwerke durchforstet. Dahinter steht die Vermutung, dass Menschen im Internet ehrlicher sind als bei Befragungen. Falls es also stimmt, dass moderne Leute heute wieder weniger zum Therapeuten rennen, sondern ihrInneres lieber im Netz nach außen kehren, so dürfte dies zumindest für die Trendforschung positive Effekte haben. Vor allem aber glauben die Trendsucher, dass im Netz die sogenannten Lead-User unterwegs sind. Die Digital Natives, die Vornesitzer und Alphatiere kultureller Entwicklungen. Die Methodik stammt eigentlich aus der Wirtschaftsspionage und ist oft ertragreicher als eine klassische Medienanalyse, sagt Gebhardt. In anderen Worten: Trendanalysten vertrauen Bloggern mehr als Journalisten.

Die populäre Trendforschung entstand sinnigerweise zeitgleich mit dem Aufkommen des 1980er-Jahre-Hedonismus, und sie hat sich seither zu einer weitverzweigten Branche entwickelt, mit etablierten Marken, ausgeklügelten Verkaufsstrategien und komplizierten Analysewerkzeugen. Fast alle großen Firmen haben Trendagenturen angeheuert oder gleich eigene Szenario-Abteilungen installiert. Hinter der Trendforschung steht die Theorie, dass sich Ideen wie Epidemien verbreiten. Diffusion nennt das die Soziologie. Eine der berühmtesten Diffusionsstudien ist die Beobachtung zur Entwicklung des Hybridmais in den 1930ern. Die neue Maissorte war den alten deutlich überlegen. Trotzdem dauerte es 20 Jahre, bis sie sich durchsetzte. Die Diffusionsforscher nannten jene Bauern, die schon 1928 den Maisanbau umstellten, »Innovatoren«, die etwas größere Gruppe, die von ihnen den Mais übernahm, waren die »Early Adopters«. Sie waren Meinungsführer im Dorf, respektierte Leute, die die Innovatoren genau beobachteten und ihnen dann folgten. Nach Jahren folgte die »skeptische Masse«, jene, die nie etwas verändern würden, bevor nicht auch die erfolgreichsten Bauern es vorgemacht hatten. Aber auch sie wurden vom »Hybridmais-Virus« erfasst und übertrugen ihn schließlich auf die Ewiggestrigen, die »Nachzügler«.

Was aber können Trendforscher vorhersagen? Bekannt ist die Hamburger Trendbastelstube vor allem dafür, dass sie gesellschaftliche Strömungen in smarte Worte kleidet, die jeder versteht und die doch neu klingen. Die Top Drei der letzten zehn Jahre: »Ich-AG« (der Mensch wird sein ganzes Leben dem beruflichen Erfolg unterordnen, 2000), »Eigenzeit« (wenige werden mehr Überstunden machen, und viele haben dadurch weniger zu tun, 2003), »Karma-Kapitalismus« (Spiritualität und Nachhaltigkeit werden ein neuer Markt, 2007). Wenn man die jungen Leute betrachtet, die in schlechter Haltung vor ihren Riesenbildschirmen über Markenstrategien brüten, soziale Netzwerke studieren oder Lavendel-Kaugummis aus Japan probieren, muss man auch mal grundsätzlich die Frage stellen, ob es nicht schon zu viele Aussagen, zu viele Analysen, zu viele Kanäle gibt. Wer kann da ehrlich behaupten, er habe noch den Überblick? Sind nicht die geflechtartigen Entwicklungen unserer Gesellschaft mit ihren Hunderten sich kreuzenden Erzählsträngen sowieso unbeschreibbar geworden? Hand aufs Herz: Aus ein paar Blogs große Trends abzulesen, scheint ungefähr so treffsicher, wie im Ozean nach Teufelskärpflingen zu fischen.

Gebhardt ist da, berufsbedingt vermutlich, anderer Meinung: die Benennung großer Entwicklungen sei zwar kompliziert, aber nicht unmöglich. Um den Überblick zu bewahren, unterscheidet die postmoderne Trendforschung zwischen Megatrends, die irgendwann jeden noch so realitätsfernen Waldorflehrer erreichen (wie die Digitalisierung), Produkttrends (wie »Coffee-to-go«), Konsumententrends (Produkte im Internet zu kaufen) und reinen Moden, die flüchtig sind und verschwinden, bevor die Mehrheit sie überhaupt wahrnahm (Fensterglasbrillen). Man möchte natürlich das Trendbüro testen – so, wie man beim Wahrsager ja auch wieder umkehrt, wenn auf das Anklopfen die Frage kommt: »Wer ist da?« Deshalb: Frau Gebhardt, was ist der nächste Megatrend? Die angenehm unaufgeregte 40-Jährige, die so gar nicht dem Klischee des nerdigen Trendscouts entspricht, denkt kurz nach, dann sagt sie: »Der Einzelne wird die Zielgruppe, N = 1.« In Zukunft werden Produkte nach den Wünschen des Einzelnen produziert. Und dann gibt es noch Gegentrends, ergänzt Gebhardt. Deren Logik besteht darin, dass man Dinge oft erst zu schätzen weiß, wenn sie vorbei sind: »Alles, was zu verschwinden droht, gewinnt an Bedeutung.« Ein schöner Satz. Der auch der Trendforschung Hoffnung macht.


Station 2: Das Wettbüro

Eine auf den ersten Blick noch unseriösere Art der Vorhersage ist das Wetten. Eines der interessantesten Wettbüros ist die Long Now Foundation in San Francisco (siehe auch den Text auf Seite 40). In einer gelungenen Kombination aus Spielerei und Ernst kann man auf der Website longbets.org statt auf DFB-Pokalergebnisse auf die Zukunft wetten. Ein paar Beispielwetten: Wetten, dass bis zum Jahr 2090 die Hälfte der Menschheit ausgerottet sein wird? Oder: Wetten, dass bis 2010 mehr als 50 Prozent aller Bücher auf digitalen Geräten gelesen werden?

Manche drehen auch ein ganz großes Rad: Wetten, dass man im Jahr 2100 keine klare Unterscheidung mehr machen kann zwischen Menschen und Maschinen? Das Wettbüro funktioniert so: Jeder, der wettet, muss eine fundierte Erklärung abgeben, wie seine Wette motiviert ist. Was zur Folge hat, dass nicht irgendwelche Spinner mit Halbwissen prahlen, sondern Experten ihre zwar teilweise abstrusen, aber nie inhaltsleeren Ideen vorstellen. Noch zwei Beispiele: Bis 2040 wird »Chi« als »Lebenskraft« von der Schulmedizin anerkannt sein, oder: Bis 2063 wird es weltweit nur noch signifikante Währungen geben. Dies sind Prognosen. Wer glaubt, eine Prognose machen zu können, wird kostenlos Mitglied bei Long Bets, tippt seine Vorhersage ein und begründet sie in fünf bis zehn Zeilen. Die Prognose wird online publiziert. Jetzt können andere Mitglieder die Prognose herausfordern. Sie setzen mindestens 200 Dollar (der US-Investor Warren Buffett setzte 1 Million Dollar), schreiben eine Erklärung, warum sie nicht an diese Prognose glauben und notieren, welcher Wohltätigkeitsorganisation das Geld im Erfolgsfall zugutekommen soll. So wird aus der Prognose eine Wette.

Long Bets ist ein kleiner Seitenarm der gewaltigen Long Now Foundation, einer NGO, die sich mithilfe finanzstarker Mäzene (unter anderem Jeff Bezos, dem Amazon-Gründer), einer ambitionierten Aufgabe gewidmet hat: unser Schneller/Billiger-Denken in einLangsamer/Besser-Denken zu wandeln. Also eine Art Slow Food für den Geist. Was soll das? Es geht darum, unsere Aufmerksamkeitsspanne zu verlängern. Nicht nur bis zum nächsten Geburtstag, bis zur nächsten Legislaturperiode denken, sondern in großen Bahnen. Zu diesem Zweck soll eine digitale Bibliothek gegründet und die »10.000-Jahre-Uhr« gebaut werden. Diese Uhr erklärt der Erfinder Daniel Hillis so: »Als ich ein Kind war, sprachen die Menschen vom Jahr 2000. Sie sprachen 60 Jahre lang von diesem Datum. Meine Zukunft schrumpfte jedes Jahr um ein Jahr. Jetzt haben wir dieses Datum überschritten und die Menschen sprechen von gar keinem Datum mehr. Ich möchte eine große mechanische Uhr bauen, die einmal pro Jahr tickt, einmal pro Jahrhundert schlägt und deren Kuckuck jedes Millennium einmal ruft.« Man sollte das nicht zynisch abtun, denn die Uhr gibt es inzwischen. 10.000 Jahre – können wir uns das vorstellen? Und wenn ja, wird es noch Menschen geben, um diese Uhr in 10.000 Jahren zu bestaunen? Können wir uns die Welt in 500 Jahren vorstellen? Oder wenigstens in 50? Die Uhr ist einfach eine andere Art, die alte Max-Frisch-Frage zu stellen: Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?

Man kann die Leute von Long Now natürlich für Spinner halten, man kann aber auch über einige der eingereichten Wetten nachdenken: Kevin Kelly, Mitgründer der Initiative, wettet zum Beispiel, dass bis 2060 weniger Menschen auf der Erde leben werden als heute. Seine Erklärung: Der Trend zur Kleinfamilie mit weniger als drei Kindern wird sich verstärken. Was passiert hier? Einerseits werden komplexe Wissenschaftstheorien über unsere Zukunft auf gut leserliche Fünfzeiler heruntergekocht, andererseits wird angeregt zum aktiven Nachdenken über unser Leben – und unsere Zukunft. Interessant auch die Negativwetten: 2035 wird der Aralsee in Mittelasien nicht mehr existieren. Oder: 2015 wird der letzte Videoverleih zumachen. Auch gut: 2030 verschwindet die Computermaus und bis 2120 gibt es keine Steuern mehr. Mein absoluter Favorit: Im Jahr 2100 wird es keinen Rassismus mehr geben.


Station 3: Die Wahrsagerin

Wen nicht die Zukunft unserer Welt quält, sondern die der eigenen Liebe, der geht zu Wahrsagern. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass Deutsche jährlich rund 500 Millionen Euro bei Wahrsagern lassen. Nicht alle, natürlich, sind gleich gut. Ich höre Gerüchte von einer Frau mit eindrücklichen Referenzen: Sie habe die Finanzkrise vorhergesehen, 9/11, beide Irak-Kriege, den Tsunami. Große Schauspieler zählt sie zu ihrem festen Kundenkreis. Die Trendsetterin unter den Wahrsagern wohnt in einer Bungalowsiedlung in Hamburg-Norderstedt. Als ich klingle, öffnet eine Frau vorsichtig die Tür und zwei abgrundtief dunkle Augen fixieren mich. Ich möchte sofort alles bekennen: all meine Sünden, auch die, die ich nie begangen habe, und selbst jene, die ich bloß gern begangen hätte. Die Frau führt mich durch ein geschmacklos eingerichtetes Wohnzimmer, im Hintergrund lärmt ein Fernseher, ins Behandlungszimmer: Tisch, Stühle, ein randvoller Aschenbecher, Schokoladentafeln (für die Nichtraucher?), Taschentücher. Sie bittet mich, ein abgegriffenes Kartenspiel zu mischen und in drei Haufen zu teilen. Dann deckt sie eine nach der anderen auf: Kreuz 7, Karo 4, Kreuzkönig – 21, denke ich – aber ein plötzliches »Oh!« reißt mich aus meinen Blackjack-Überlegungen. »Ein Mann steht Ihnen nahe«, sagt die Dame geheimnisvoll, grinst und entblößt ihre Raucherzähne. »Aha«, sage ich und überlege, wen sie wohl meinen könne. Dann kommt eine 10 und dann ein Bube. »Ein Mann ist in Sie verliebt!« – Tatsächlich? – »Ja, Sie ziehen Männer an.« Ich nicke gelassen. Anschließend hakt sie ein paar Allgemeinplätze ab: »Sie sind an einem Wendepunkt«, »Sie haben bereits schwere Erfahrungen hinter sich«, »Sie machen sich Sorgen« – Aussagen also, die jeder normal unglückliche Mensch mit einem Ja beantwortet.

Dann kommen Tarotkarten. Sie sagt: Ich hätte noch nie richtig geliebt, mir attestiert sie gute Instinkte, immerhin. Ferner: Kürzlich hätte ich viel Geld verloren und ich solle mich vor Männern in Acht nehmen. Nach 30 Minuten sage ich, ich hätte noch nie Geld verloren. Außerdem sei ich nicht schwul, sondern lebe in einer heteronormativen Kleinfamilie. Ein wütender Blick, der irgendwo tief hinter der mystischen Fassade eine große Unsicherheit verrät, trifft mich. Wohl beim Gedankenlesen verlesen, denke ich. Als ahne sie meinen stummen Kommentar, straft sie mich mit einer detaillierten Beschreibung von Unglücken, die mir zweifellos bevorstünden: Die Umstände meiner Ehe seien denkbar ungünstig, meine Tochter sei ständig krank und sollten wir je nach New York ziehen, würde das in einer Katastrophe enden, denn sie sehe in baldiger Zukunft einen Tsunami auf die Stadt zurollen. Dann lenkt sie ein: Was eben noch mein heimlicher Geliebter war (der Kreuzkönig), ist jetzt mein sportlicher Sohn (ich nicke wohlwollend) und – dies wird seine Lehrer interessieren – sollte er in der Schule Schwierigkeiten machen, dann nur, weil er hochbegabt ist. Sie schließt mit einem verkaufsfördernden Hinweis (»Hat Ihrem Sohn schon einmal jemand die Karten gelegt? Könnte sich lohnen«). Ich besinne mich auf meine Instinkte und verabschiede mich hastig. Etwas missmutig schüttelt sie mir die Hand, bleibt in der Tür stehen. Lange noch spüre ich ihren dunklen Blick auf meinem Rücken. Auf der Rückfahrt lasse ich mein Handy im Taxi liegen und verpasse meinen Zug.

Als Finne ist es Mikael Krogerus (33) gewohnt, auf Zeichen in der Natur zu achten. So bedeutet das Auftauchen von Walen in Finnland, dass fette Zeiten kommen. Eigentlich ziemlich logisch