Ob es eine Frage gibt, die sie besonders nervt? „Wann es klick gemacht hat. Ab wann ich plötzlich Victoria war“, sagt Victoria Montenegro, sie hat dunkle, lange Haare und zwei Leben. „Als ob das so schnell ginge. Als könnte man mehr als 20 Jahre Lügenkonstrukt einfach so ablegen!“
Sie ahnte nichts, die gesamte Kindheit über. Hörte auf den Namen María Sol. Nannte den Offizier Herman Tetzlaff „Papa“, ging mit ihm in die Kaserne, um dort zu spielen. Sie glaubte ihm, dass es in Argentinien zwischen 1976, ihrem Geburtsjahr, und 1983 einen Krieg gegeben hatte – bei dem die Guten, das Militär, gegen „perverse Verbrecher“, die politischen Gegner, gekämpft hatten. Dass die 30.000 Opfer der Diktatur notwendig waren, um die Heimat zu retten. Das waren „Subversive“, keine Menschen, sagte Tetzlaff, und María Sol war einverstanden. Sie fand es nicht einmal verwerflich, als ein Soldat bei einem Mittagessen fragte, warum die Militärs nur 30.000 Menschen umgebracht hatten und nicht 1.000 mehr. Er meinte die Kinder der Ermordeten. „Wir sind doch keine Tiere“, antwortete Tetzlaff, ein Zweimetermann, vor dem alle kuschten.
Was das Mädchen, das auf den Namen María Sol hörte, nicht wusste: Sie selbst war eines dieser Kinder. Und Herman Tetzlaff war in der Diktatur Chef der Einsatzgruppe eines Folterzentrums. Er mordete und folterte. Er war der Mann, der ihre Eltern von zu Hause verschleppt hatte. Der ihnen ihr 13 Tage altes Baby raubte, es für tot erklären ließ und eine gefälschte Geburtsurkunde besorgte, damit niemand Verdacht schöpfte. Sonntags ging er mit der Familie in die Kirche.
Victoria Montenegro sitzt auf einer Bank auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, die Nachmittagssonne scheint ihr ins Gesicht. Es ist der Platz an der Casa Rosada, dem Regierungsgebäude. In der Mitte des Platzes steht die Mai-Pyramide. Um sie herum sind auf den Boden weiße Kopftücher gemalt, zur Erinnerung an die mutigen Mütter, die schon während der Militärdiktatur auf dem Platz protestierten. Sie suchten ihre Kinder: Dissidenten wie Victorias Eltern, die das Regime verschleppt hatte. Demonstrationen und Versammlungen waren verboten. Also banden sie sich die Windeln ihrer verschwundenen Kinder wie Kopftücher um und liefen um die Pyramide herum. Immer im Kreis. Jeden Donnerstag. Sie fragten: „Wo sind sie? Leben sie noch? Oder wo sind ihre Leichen?“ Diktator Jorge Rafael Videla reagierte kalt. 1979 sagte er in einer Pressekonferenz: „Was ist ein Verschwundener? … Er ist ein Rätsel. Ein desaparecido hat keinen Körper, ist nicht da, nicht tot, nicht lebendig, er ist verschwunden.“
Die Militärjunta ging davon aus, dass mit dem Verschwinden der Leichen der Eltern jede Möglichkeit ausgelöscht war, die Herkunft eines Kindes zu beweisen. Der genetische Fingerabdruck war damals noch nicht erfunden. Auch Tetzlaff und seine Frau ahnten nicht, dass Gerichtsmediziner einige Jahre später mit nur einem Tropfen Blut feststellen könnten, zu welcher Familie ein Kind gehört. Auch wenn die Eltern tot sind und niemand weiß, wo ihre Leichen sind.
Victoria wollte es nicht wahrhaben, als ein Richter Anfang der 90er-Jahre eine DNA-Probe anordnete. Ihr Name war nicht ihr Name? Ihr Vater nicht ihr Vater? Plötzlich sollte sie das sein, was sie verabscheute: die Tochter von „Subversiven“. Sie sagte Tetzlaff: „Egal was passiert, ich bin an deiner Seite.“ Selbst als er ihr gestand, dass er ein Mörder war, sagte sie: „Du hast getan, was du tun musstest. Du hast das Kind des Feindes aufgezogen, als wäre es dein eigenes.“ Der Psychologin der Großmütterorganisation „Abuelas“, die Victoria Hilfe auf dem Weg in ein neues Leben ohne Lügen anbot, sagte sie: „Ihr werdet mir nicht das Hirn waschen!“
Trotzdem begann sie irgendwann, zwei Mal im Jahr Geburtstag zu feiern. Einmal an dem Tag im Mai, den Tetzlaff in die gefälschten Papiere eingetragen hatte. Und einmal im Januar, an ihrem echten Geburtstag.
Dann passierte lange nichts. Niemand zwang sie, ihre echte Familie kennenzulernen. „Aber ich hatte diese Kiste von den Abuelas bekommen“, sagt Victoria. Darin waren: Fotos ihrer Eltern. Briefe von Verwandten. Kassetten und CDs, auf denen Tanten und Onkel von ihren Eltern erzählten. Sie erfuhr, dass ihr Vater am liebsten Schnitzel mit Pommes aß. Dass ihre Eltern gegen die Diktatur gekämpft hatten und für soziale Gerechtigkeit. Dass sie sehr verliebt waren und sich ein Kind wünschten, obwohl sie noch so jung waren, die Mutter 18, der Vater 20. „Diese Kiste hat mich lange begleitet. Ich habe nicht alles gleich gehört und gelesen, sondern ganz langsam, Stück für Stück. Immer nur so viel, wie ich ertragen konnte“, sagt Victoria. Erst im Jahr 2000 begann sie, sich mit ihrem echten Namen vorzustellen.
Weinen ist etwas für Memmen, das hatte sie von Tetzlaff gelernt. Aber damals, vor Gericht, da brach es aus ihr heraus. Als die junge Frau dem Richter sagte: „Ich heiße Victoria Montenegro“, da wusste Tetzlaff, dass sie sich von ihm losgesagt hatte. Zum ersten Mal stellte sie sich gegen ihren „apropiador“, ihren Aneigner, wie sie ihren falschen Vater heute nennt. Alles ergab jetzt Sinn. Dass sie ihm nicht ähnlich sah. Dass er das Wochenendhaus der Familie „El Campito“ nannte, das kleine Feld, so wie das Folterzentrum in der Kaserne Campo de Mayo, in dem auch ihre Eltern gequält worden waren. Dass ihre Ziehmutter ihr einmal drohte: „Sei brav, oder wir geben dich zurück.“ „Es war keine Adoption, eine Adoption ist etwas Gutes“, sagt Victoria. „Es war Mord an meinen Eltern und Kindesraub. Da war keine Liebe. Meine Großmutter suchte ihr Leben lang nach mir und starb, ohne dass wir uns kennenlernen konnten.“
Trotzdem, alles sei richtig, so wie es ist. „Die Wahrheit zu wissen ist eine Befreiung. Man kann auf einer Lüge kein Leben aufbauen. Sonst fällt es irgendwann in sich zusammen.“ Die schwierigste Zeit sei die gewesen, in der sie eine Lüge lebte, obwohl sie längst wusste, dass sie nicht María Sol war. „Dass Tetzlaff nicht mein Vater war. Dass meine Eltern Toti und Hilda hießen. Dass sie ermordet wurden, weil sie von einer besseren Welt träumten.“ Herman Tetzlaff starb 2003 in einem Militärgefängnis. Sie sei froh, die Wahrheit zu wissen, „auch wenn es oft sehr wehgetan hat.“ Etwa als das Skelett ihres Vaters gefunden wurde, verscharrt als Namenloser auf einem Friedhof in Uruguay, in einer Stadt an der Küste. Gerichtsmediziner konnten anhand der Art der Knochenbrüche belegen, dass er, wie Tausende andere Opfer auch, aus einem Flugzeug über dem Río de la Plata abgeworfen wurde. „Das zu erfahren war fürchterlich“, sagt Victoria. „Ich hatte mir immer vorgestellt, sie seien erschossen worden in der Nacht ihrer Entführung. Aber sie wurden wochenlang gefoltert und dann lebendig aus einem Flugzeug in den Fluss geworfen.“
In ihrem neuen Leben ist Victoria Vertreterin einer Regierungsorganisation und setzt sich für Menschenrechte ein. Heute ist sie auf die Plaza de Mayo gekommen, um Flyer gegen Gewalt gegen Frauen zu verteilen. Ihre wahren Eltern sieht sie jetzt jeden Tag. Hilda Torres und Roque „Toti“ Montenegro sind auf zwei Passbildern in Schwarz-Weiß zu sehen, die Victoria als ihr Profilfoto bei WhatsApp hochgeladen hat.
Karen Naundorf ist Absolventin der Henri-Nannen-Journalistenschule und gehört zum Journalistennetzwerk „Weltreporter“. Sie lebt in Argentinien und berichtet für deutschsprachige Medien aus ganz Südamerika