Im Kino ginge die Geschichte so: Frank ist ein Cop, einer von diesen Anzugtypen, gehobener Dienst, Ministerium. Als er nach Hause kommt, ist es mal wieder etwas später geworden. Durchs erleuchtete Fenster schaut die Kamera in sein Apartment. Und hinter den Gardinen sehen wir Frank mit seiner Ehefrau. Die macht ihm Vorhaltungen: sein Job, immer nur Arbeit – bis sich Frank seinen Mantel schnappt und das Haus verlässt. Es regnet. Den Kopf in den hochgeschlagenen Mantelkragen gedrückt, treibt es ihn ziellos durch die Straßen, dann in den Stadtwald in der Nähe – und plötzlich muss er pinkeln. Er sucht sich eine dunkle Ecke, als aus dem Off der erste laute Satz fällt: »Was machen Sie denn da?!« Es ist die Stimme einer jungen Frau. Frank ist kein Heldentyp. Er ist einer von diesen Cops im Ministerium, die auf die Sicherheit der Politiker achten. Streifendienst, also die Straße, hat er lange hinter sich. Er sieht, wie die junge Frau, gefolgt von zwei Männern, auf ihn zukommt – und läuft weg: aus dem Park, zurück in die belebteren Wohnstraßen. »Stehen bleiben!«, rufen die drei ihm nach und rennen hinterher. An einer Straßenecke hält Frank schließlich inne, atemlos, und fragt: »Was wollen Sie eigentlich von mir?« Aber die Frau aus dem Park entgegnet nur: »Polizei! Bleiben Sie endlich stehen!«
Da sind auch schon die Streifenwagen. Obwohl er sich nicht wehrt, stoßen ihn die Cops auf den Boden. Und wäre es ein Kinofilm, wir sähen Franks schmerzverzerrtes Gesicht auf dem Asphalt, die Hände auf dem Rücken in Handschellen. Und die junge Frau aus dem Stadtpark – eine verdeckte Ermittlerin, wie sich herausstellen wird – sprüht dem wehrlos am Boden Liegenden Pfefferspray in die Augen: Das Bild verschwimmt … Wäre es ein Kinofilm, wir wüssten, wie es weitergeht für den unschuldigen Cop … Die Fantasie der Filmemacher ist da ja grenzenlos. Doch wir sind nicht in New York oder L. A., nicht in irgendwelchen Filmkulissen, sondern in einer Stadt wie Stuttgart oder Dortmund. Und mit einem Bruce Willis hat unser Frank außer der Halbglatze und der gebräunten Haut wenig gemein. Er heißt nicht mal Frank, wir nennen ihn hier nur so – so wie ihn die »Bild- Zeitung« nannte: »Frank D. (45, Name geändert)«. Doch dazu kommen wir noch. Denn der Albtraum von Frank D., der sich tatsächlich genau so zugetragen hat, ist noch lange nicht vorbei – auch wenn Frank D. die Geschichte heute weitaus weniger dramatisch nacherzählt. Über drei Jahre ist es her, dass er in einer Seitenstraße in Handschellen auf dem Asphalt lag, dass ihm die Schulter schmerzte und die Augen brannten. Und doch könnte alles längst vergessen sein, ist es aber nicht.
Wir sitzen am Esszimmertisch in einem kleinen Reihenhaus am Stadtrand, das er und seine Familie inzwischen gegen die Stadtwohnung eingetauscht haben. Es gibt Tee, D.s Ehefrau stellt einen Teller Butterkuchen auf den Tisch, setzt sich dazu, unterbricht ihren Mann gelegentlich neckisch in seinen Schilderungen. Frank D. lächelt dann sanft, nickt, sucht wieder den Blickkontakt zu seinem Gegenüber und erzählt freundlich weiter. Wie sich herausstellte, lauerte die Polizei an jenem Abend im Stadtwald einem lange gesuchten Exhibitionisten auf. Frank D. hatte am falschen Ort zur falschen Zeit an seinem Hosenschlitz herumgefummelt und war dann auch noch verdächtig weggerannt. Er hat sogar Verständnis, dass die Kollegen von der Polizei das irgendwie verdächtig fanden. Sie machten, vielleicht etwas zu ruppig, ihren Job: Mitnahme aufs Polizeirevier, erkennungsdienstliche Maßnahmen, Untersuchung der Unterwäsche auf Spermaspuren, Vernehmung. Bereits am Abend auf der Wache hatte D. seine Version zu Protokoll gegeben. Seitdem hat er seine Geschichte häufiger erzählt – zunächst natürlich noch am selben Abend (»Mach kein Licht und schrei nicht.«) seiner Frau, später auch seinen Anwälten, dann Psychiatern...
Denn schlimmer noch als der Winterabend in Handschellen, schlimmer als der Verdacht der Polizeikollegen, er sei ein Mann, der nachts im Stadtwald sein Geschlechtsteil herzeigt, war das, was zwei Tage später in der Zeitung stand. Zunächst in «Bild», die bekanntlich nicht sonderlich zimperlich ist: Knapp 70 Textzeilen war der Artikel lang, die Überschrift mehr als doppelt so groß und deutlich: »Kommissar zeigte sich nackt im Stadtwald« – und daneben, ebenfalls groß und nur sehr halbherzig verpixelt: ein Foto von »Frank D. (45, Name geändert)«, über den der Bild- Artikel weitere Details verriet: beruflicher Werdegang, »Familienvater«, tätig im »Innenministerium« … Offenbar hatte irgendein Polizist Story und Foto heimlich der Presse gesteckt, vermutlich gegen Bargeld. So läuft das leider. »Bild wirkt«, behauptet das Blatt selbst gern über sich, und Frank D., selbst kein Bild-Leser, erfuhr das anschließend am eigenen Leib: Bereits frühmorgens wurde er auf den Bild-Bericht aufmerksam gemacht – von Lesern aus Frank D.s Bekanntenkreis, die ihn wiedererkannt hatten! Noch am selben Tag meldeten sich bei ihm Familienangehörige, Kollegen und Freunde, echte und solche, die nur an der »Sensation« interessiert waren, wie es Frank D. nennt. Noch im Gespräch beim Tee ahnt man die Wucht des Schocks, sich so wie er in der Zeitung wiederzufinden. Erleben möchte man das lieber nicht. Frank D. sagt: »Es gibt so Dinge im Leben, die braucht man nicht.«
Drei Tage nach »Bild« zog dann die örtliche Lokalzeitung nach: »Exhibitionist war Jugendexperte der Polizei « stand da als Überschrift. Ohne Fragezeichen, ohne Zweifel. Die Zeitung, die sich vor Ort um ein Vielfaches besser verkauft als »Bild«, hatte auf ein Foto verzichtet. Doch dafür breitete der Artikel noch mehr private und berufliche Details aus Franks Leben aus. Unwahrscheinlich, dass jeder, der Frank D. auch nur flüchtig kannte, ihn da nicht wiedererkannt hätte – als den Polizeibeamten, der sich, wie es ohne Wenn und Aber hieß, im Stadtwald »vor einer Frau entblößt hat«. Und Frank D. scheint noch heute erstaunt darüber, wie leicht es vielen fiel, die Vorverurteilung der Medien unbesehen zu übernehmen. Seinen Job im Ministerium, so viel war eigentlich schon damals klar, würde er nicht wieder antreten. Selbst wenn sich, was ein paar Monate später auch geschah, endlich herausstellen sollte, dass Frank D. ganz offensichtlich zu Unrecht beschuldigt worden war: Jemand, der als Exhibitionist groß in der Zeitung stand, ist im sensiblen politischen Betrieb kaum tragbar. »Ist das nicht der, der angeblich mal …?« Das reicht oft schon.
Objektiv betrachtet hatte Frank D. sogar Glück. Andere Rufmordopfer berichten, dass sie nach entsprechenden Medienberichten auf der Straße beschimpft, sogar bespuckt oder von anonymen Anrufern belästigt werden, dass sie nicht nur (wie der Beamte D.) in eine andere Abteilung versetzt, sondern arbeitslos wurden. Das immerhin blieb Frank D. erspart. Und es gibt Rufmordopfer, die gar nichts mehr berichten können – weil sie sich nämlich aus Verzweiflung umgebracht haben. Davon war auch Frank D. nicht weit entfernt. Er hatte bereits Schlaftabletten gesammelt, sein Testament geschrieben und eine Art Überlebensplan für seine Frau. Glücklicherweise schickte ihn sein Hausarzt zur Erholung in eine Rehaklinik. Das half. Ein bisschen. Fürs Erste.
Eine gute Story wiegt mehr als ein bisschen Schmerzensgeld
Bis heute ist Frank D. in psychiatrischer Behandlung. Wenn er die Presseberichte von damals zeigt, schaut er selbst kaum hin. Abgeheftet sind sie irgendwo in zwei dicken Aktenordnern zwischen lauter Unterlagen über das, was Frank D. »den Vorfall« nennt. Denn anders als viele andere Rufmordopfer hat sich Frank D. gewehrt. Anwälte haben dafür sorgen können, dass nicht noch weitere Rufmordberichte erschienen sind, und von der Lokalzeitung und »Bild« vor Gericht Schmerzensgelder erkämpft – insgesamt mehrere Zehntausend Euro. Das klingt vielleicht nach viel Geld, ist es aber nicht. Vor allem nicht für die Verlage, die das Schmerzensgeld bezahlen müssen – im Redaktionsalltag ist das oft ein kalkulierbares Risiko. Viele Opfer, Täter, Angehörige ducken sich weg, aus Scham, selbst dann, wenn ihnen Unrecht getan wird. Für die Reporter, Redakteure und Verlage ist so ein Schicksal oft nichts weiter als eine »gute Story«. Und »Kommissar nackt im Stadtwald« liest und verkauft sich natürlich viel besser ohne Wörter wie »könnte«, »soll«, »vielleicht« oder »mutmaßlich«.
Natürlich, das sieht auch Frank D., hätten die Zeitungen berichten dürfen. Ein Polizist war festgenommen worden, weil ihn die Polizei für einen Exhibitionisten hielt, und gegen ihn ermittelte. So war es ja. Aber im Pressekodex (einer Selbstverpflichtung der Presse zu verantwortungsbewusster Arbeit) heißt es über die Berichterstattung: »Sie darf (…) nicht vorverurteilen.« Und nicht nur das: Die Presse soll in der Regel nichts veröffentlichen, was »eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen « würde, schon gar nicht, um »Sensationsbedürfnisse« der Leser zu bedienen. Eigentlich unmissverständlich.
Den Zeitungen in Frank D.s Heimatstadt war das egal. Die Lokalzeitung druckte irgendwann eine kleine Meldung. Frank D. hat auch die in seinen Ordnern archiviert: »Kommissar ist unschuldig – Ermittlungen eingestellt «. Die Bild-Leser wissen bis heute nichts davon. Entschuldigt hat sich bei ihm niemand. Auch jetzt noch, drei Jahre später, möchte Frank D. unerkannt bleiben. Es reicht nicht, sich einen anderen Namen für ihn auszudenken und den Stadtwald bloß Stadtwald zu nennen. Der Name der Lokalzeitung, die ihm so übel mitgespielt hat, muss unerwähnt bleiben, weil sie so heißt, wie die Stadt, in der er wohnt. Und wenn man dokumentieren will, wie groß und vorverurteilend die Bild-Schlagzeile gewesen ist, dann nur, wenn man Frank D.s Gesicht daneben zusätzlich verfremdet. Um die Pinkelecke von damals macht Frank D. bis heute einen großen Bogen, in den Stadtwald selbst kommt er immer noch oft: Der sei »prima zum Laufen«, sagt er, »aber nicht so gut zum Weglaufenm ...«
Christoph Schultheis (43) ist Medienjournalist. Bis vor kurzem war er Mitbetreiber von Bildblog.de