Mitten in St. Pauli, in einem kleinen Cafe zwischen türkischen Gemüsehändlern, Tattooshops und Klamottenläden, sitzen im Frühjahr 2018 ein paar Journalisten an ihren Laptops und arbeiten an einer Idee: Wie wäre es, wenn man Daten so sammeln würde, dass sie der Gesellschaft nutzen und nicht der Gewinnmaximierung Einzelner? Wenn man zum Beispiel besser verstehen könnte, warum sich hier in Hamburg der Wohnungsmarkt so verändert, weshalb die Mieten immerzu steigen, wer genau davon profitiert, wohin das Geld fließt?
Die Journalisten wissen, dass sie diese Daten nicht so einfach erhalten. Von der Stadt nicht oder erst nach sehr langer Zeit, von den Investoren schon gar nicht. Daher haben sie unter dem Titel „Wem gehört Hamburg?“ eine Kampagne gestartet, in deren Zuge recherchiert werden soll, wem die knapp 700.000 Mietwohnungen der Hansestadt wirklich gehören. Nicht nur vor Ort im Café, auch über eine Onlineplattform sammeln sie in Zusammenarbeit mit den Bürgern Daten. Die kennen die Eigentümer ihrer Wohnung – oder haben, falls nicht, das Recht, Einsicht in das Grundbuch zu nehmen; diese Auskunft ist ansonsten nicht öffentlich.
Auf einer Website haben bereits Tausende Mieter Informationen hochgeladen, zusammen mit einem Nachweis – zum Beispiel Mietvertrag oder Nebenkostenabrechnung. Das Prinzip entspricht in etwa einem riesigen Puzzle: Viele einzelne Personen verfügen über viele einzelne Informationen, die nicht öffentlich zugänglich sind. Die Journalisten fügen aus diesen Einzelteilen ein Gesamtbild zusammen. Die Recherche läuft in Kooperation mit dem „Hamburger Abendblatt“ und dem Mieterverein zu Hamburg.
„Es fehlen Überblick und Transparenz“, sagt Simon Kretschmer, einer von zwei Geschäftsführern, im Berliner Büro von Correctiv, einer Redaktionsgemeinschaft, die von Spenden lebt und die ihre Geschichten kostenlos anderen Medien zur Weiterverbreitung überlässt. Die Bürger sind ihnen bei ihren Recherchen wichtig, sie wollen sie in ihre Arbeit einbeziehen: im Schwarm Daten sammeln, wo es vielleicht keine offiziellen Statistiken gibt – oder wo diese fragwürdig oder lückenhaft erscheinen.
Correctiv macht in diesen Fällen das, was sein Name ursprünglich bedeutet: ausgleichen, berichtigen, verbessern. In Dortmund recherchierte die Redaktion in Kooperation mit den „Ruhr Nachrichten“ etwa den Unterrichtsausfall an den Schulen: Einen Monat lang konnten Schüler, Lehrer und Eltern über ein Onlineformular alle ausgefallenen Stunden angeben.
In Hamburg gab es vor der Recherche zum Immobilienmarkt praktisch gar keine Zahlen. „Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in anderen Ländern ein zentrales öffentliches Immobilienregister“, sagt Jonathan Sachse. Er ist Mitglied der Redaktion und hat seit 2014 an vielen Projekten mitgearbeitet – auch in Hamburg. Dass es keine Übersicht über den Wohnungsmarkt gibt, nutze vor allem den großen Immobilienfirmen. „Die Intransparenz hat Folgen: Deutschland ist Studien zufolge in Europa einer der beliebtesten Märkte für Geldwäsche“, sagt Sachse. Erst im Juli wurden in Berlin 77 Immobilien eines arabischen Familienclans beschlagnahmt, die mit Geld aus kriminellen Aktivitäten finanziert worden sein sollen.
„CrowdNewsroom“ nennt Correctiv die Methode: eine Art virtuelle Redaktion, in der Journalisten und Bürger gemeinsam Daten zusammentragen. Es geht ums Mitmachen, Gemeinsam-Machen, Einbeziehen. „Wir stärken damit auch die Medienkompetenz der Bürger. Weil wir an vielen Stellen erklären, wie unsere Arbeit praktisch und ganz konkret funktioniert“, erklärt Jonathan Sachse. So versuchen sie, das Vertrauen in den Journalismus zu stärken. Man konzentriert sich auf einige wenige Themen und arbeitet daran lange, detailliert und aufwendig. Eine Arbeitsweise, die sich klassische Medien, Verlage und Zeitungen immer seltener leisten können. In den letzten Jahren hat Correctiv an sehr unterschiedlichen Themen gearbeitet: Recherchiert wurde zu den Hintergründen des Absturzes des Malaysia-Airlines-Flugzeugs MH17, das 2014 über der Ukraine abgeschossen wurde. Zu resistenten Keimen in Krankenhäusern, sexueller Belästigung beim WDR und der Rolle der Mafia in der europäischen Wirtschaft. Außerdem deckten die Mitarbeiter einen riesigen Medizinskandal um einen Apotheker aus Bottrop auf, der daraufhin wegen gepanschter Krebsmedikamente in 60.000 Fällen angeklagt wurde. Und als erstes großes Projekt mithilfe des „CrowdNewsrooms“ sam- melten sie 2016 zusammen mit Bürgern in ganz Deutschland Informationen über Vorstandsgehälter und Dispozinsen ihrer lokalen Sparkassen.
Auch wenn Correctiv die Daten für die Recherchen oft im Internet sammelt, wissen die Reporter, dass man das Vertrauen der Menschen nicht allein mit einer Präsenz im Internet gewinnen kann. Deswegen das Ladenbüro in St. Pauli, wo sie auch Diskussionen mit Mietern, Experten und Politikern organisierten. „Es gab auch 300 Leute, die gleich am ersten Tag ihre Dokumente hochgeladen haben, ohne vorher in den Laden zu kommen“, sagt Jonathan Sachse, „andere haben aber erst mal Fragen und Sorgen. Sie wollen die Leute kennenlernen, denen sie ihre Daten geben.“ Nicht alle Bürger seien so digitalaffin, wie man das heute manchmal annehme, meint Simon Kretschmer: „Uns ist die alte Frau eben genauso wichtig wie der digitale Mittzwanziger.“
Mithilfe der Bürger und der Hamburger Genossenschaften, die sich als Reaktion auf die Correctiv-Recherche entschlossen, ihren Bestand offenzulegen, kennen sie nun die Eigentümer von etwa 150.000 Wohnungen. Die gesammelten Daten werden geprüft, sortiert und aufbereitet, um weiterführende Fragen zu beantworten. Wie viel Eigentum liegt eigentlich in Immobilienfonds? Wer sind die Anteilseigner an den Fonds? „Die Spuren sind oft unklar und verlieren sich nicht selten in irgendwelchen Steueroasen“, sagt Jonathan Sachse.
Die ersten Storys, an denen die Hamburger Bürger mitgewirkt haben, sind nun in der Welt. Darüber etwa, wie eine Luxemburger Firma beim Erwerb von Wohnhäusern in Hamburg die Gundsteuer spart, oder über ein dänisches Bankenkonsortium, das die Mieten erhöht und an Renovierungen spart, um ihren Kunden die Rendite zu sichern. Es sind die ersten Kapitel einer Geschichte, die ein neues, ein genaueres Bild einer sich verändernden Stadt zeichnet.