Seit seinem Roman „Die Korrekturen“ gilt der US-Amerikaner Jonathan Franzen als Experte für die Schilderung gestörter familiärer Beziehungen und als einer der besten zeitgenössischen Autoren und das durchaus zu Recht. Franzen orchestriert Zeit- und Erzählebenen so souverän, dass seine Leser trotz der anspruchsvollen Dramaturgie nie durcheinandergeraten und bei jedem Kapitel darauf brennen, den Gang der jeweiligen Teilgeschichte weiterzuverfolgen – bis Franzen am Ende alle Erzählstränge mühelos verknüpft. Dass seine Plots zudem häufig einen aktuellen gesellschaftlichen Diskurs widerspiegeln, macht ihn quasi zum Musterschüler der globalen Creative-Writing-Klasse.

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Von der Stasi bis zu den Whistleblowern des Internetzeitalters spannt Franzen den Bogen in „Unschuld“ (Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz)

Von der Stasi bis zu den Whistleblowern des Internetzeitalters spannt Franzen den Bogen in „Unschuld“

(Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz)

Auch „Unschuld“ ist ein typischer Franzen: Die Protagonistin Purity Tyler verdingt sich im weniger glamourösen Sektor des Silicon Valley als Callcenter-Kraft, bis sie aufbricht, ihren Vater zu suchen, über den sich ihre hochkomplizierte Hippie-Mutter beharrlich ausschweigt. Auf der Suche begegnet sie dem charismatischen Andreas Wolf, der sich einst in der DDR um vernachlässigte Jugendliche kümmerte (am liebsten natürlich um die weiblichen, hübschen) und nach dem Mauerfall zum Whistleblower-Popstar wird, der aus seinem Versteck im bolivianischen Dschungel heraus Geheimnisse über Staaten und Unternehmen lanciert. Bei ihm ist jede dissidente Anwandlung letztlich ein Fluchtversuch vor seinem systemtreuen Stiefvater und dem etwas zu libidinösen Verhältnis zu seiner Mutter.

Jeder in diesem Buch ringt um eine andere Version übergeordneter Gerechtigkeit, und dabei muss mitunter die moralische Integrität leiden. Es treten auf: Mütter, die ihre Selbstliebe als Erziehungsmaßnahme tarnen, nimmermüde Väter, die neben der beruflichen Karriere an allen Fronten um Zuneigung kämpfen, und Kinder, die erfolglos versuchen, ihre Traumata wegzuonanieren – und das nicht nur im übertragenen Sinne.

Letztlich stellt Franzens Buch eine wahrhaft große Frage: Darf man lügen und betrügen, wenn man damit im Grunde nur das Beste will? Eine Antwort darauf gibt es nicht und muss es auch nicht geben. Was es aber geben könnte, wäre ein ernsthafteres Bemühen darum.

Stattdessen bekommt man Seite um Seite das Gefühl, dass es Franzen selbst letztlich gar nicht so genau wissen will. Dass er vor allem Freude daran hat, wie gut er seine erzählerischen Kniffe beherrscht, wie virtuos er all die Kapitel unter einen Hut bringt. Und dass er sich mit der schlichten Botschaft begnügt, die der ziemlich pathetische letzte Satz überbringt: Liebe ist am Ende die stärkste Kraft, die alles heilen kann. Diese Plattheit ist eines Franzen eigentlich nicht würdig.