Eins wird einem bei einer Reise nach Nordkorea sicher nicht passieren: dass man nichtsahnend mit der politischen Situation vor Ort konfrontiert wird. Man muss schon mit sehr fest verschlossenen Augen durch die Welt gehen, um noch nie davon erfahren zu haben, dass das stalinistisch regierte Nordkorea eine der restriktivsten Diktaturen der Welt ist.

Oder von den Kims, von einigen als „erste kommunistische Dynastie“ bezeichnet, die um sich einen quasireligiösen Kult errichtet hat und aus der seit dem Ende der 1940er-Jahre die Diktatoren des Landes hervorgingen. Mit Internierungslagern, Schauhinrichtungen und der Hatz auf sogenannte Volksfeinde drangsalieren sie das nordkoreanische Volk.

Ein Visum für eine Reise in das hermetisch abgeschlossene Land bekommt nur, wer unter Androhung einer nicht weiter konkretisierten Strafe schriftlich erklärt, nicht in Mainstream-Medien von seinen Erlebnissen zu berichten. Vor der Einreise, die in der Regel mit Hilfe einer ausländischen Reiseagentur über Nordkoreas befreundetes Nachbarland China erfolgt, werden Touristen einem einstündigen Briefing unterzogen. So soll verhindert werden, dass sie wegen Fehlverhaltens – das kann schon eine unbedachte lästerliche Äußerung über einen der Kims sein – gleich wieder ausgewiesen werden und zudem die für sie verantwortlichen nordkoreanischen Reiseführer in Gefahr bringen.

Keine Fragen, kein Kontakt, keine Extratouren

Denn einmal im Land angekommen, begleiten einen unentwegt zwei aufmerksame Guides der staatlichen Tourismusorganisation KITC, der „Korean International Tourism Company“. Sie nicken Fragen über Leben und Alltag in der Diktatur freundlich weg. Sie schirmen einen ab auf den kurzen Wegen zwischen dem Reisebus, in dem man von einer Sehenswürdigkeit zur anderen kutschiert wird, und dem Hotel, das zu verlassen einem ansonsten verboten ist. Sie verhindern, dass Reisende in Kontakt mit der Bevölkerung kommen, und führen die Besucher wieder und wieder vor Kim-Statuen und Staatsdenkmäler, vor denen sie sich tief zu verbeugen haben.

Alles, was man in Nordkorea sieht und erlebt, ist von der politischen Situation gefärbt: die repräsentative Monumentalarchitektur, besonders in der Hauptstadt Pjöngjang. Die Ordnung und Disziplin, mit der sich die Menschen über die Straße bewegen. Ihre uniforme Kleidung, denn alles, was westlich aussieht oder zu viel Aufmerksamkeit erregt, gilt als unsozialistisch und damit als verdächtig – und Jeans weisen einen als Sympathisanten der USA aus und sind deswegen überhaupt nirgends zu sehen. Aber auch Details wie der Umstand, dass man in sieben Tagen nur ein einziges Werbeschild zu sehen bekommt. Einsam und auch ein wenig höhnisch steht es am Straßenrand und wirbt für ein Auto chinesischen Fabrikats. Denn wem, außer den höchsten politischen Kadern, wäre es erlaubt, ein Auto zu kaufen? Wer hätte das Geld dazu?

Und dann ist da diese Sauberkeit, die von unzähligen Straßenfegern, Brückengeländer-Putzerinnen und Baumblüten-Aufsammlerinnen eisern aufrechterhalten wird. Auf dem weitläufigen Gelände des Mausoleums, in dem der „Große Führer“ Kim Il-sung (Regierungszeit 1948 bis 1994) und der „Geliebte Führer“ Kim Jong-il (1994 bis 2011) einbalsamiert in Schneewittchensärgen liegen und von ihrem Volk lautstark beschluchzt werden, gibt es Leute, die mit großen Holzschiebern unschöne Pfützen beseitigen.

An den Bushaltestellen lesen die Leute in Büchern, statt auf Handys herumzutippen. Selbst dieser für westliche Besucher erfrischende Anblick ist dem Umstand geschuldet, dass Einheimische keinen Zugang zum Internet haben – und es ohnehin nur sehr wenige Mobiltelefone gibt, mit denen sich auch nur nordkoreanische Nummern anrufen lassen. Nordkorea ist ein Land vor unserer Zeit. Ein Land außerhalb unserer Welt. Und sollte man einmal vergessen, wo man ist, erinnern einen die Lautsprecher, die von früh bis spät die Plätze mit Propaganda-Programmen beschallen.

So fühlt man sich auf einer Nordkorea-Reise unweigerlich als Zuschauer einer gigantischen Inszenierung. Alles wirkt wie ein schlecht ausgedachter Verschwörungsthriller. Warum gibt es auf der Anzeigetafel im Hotelfahrstuhl keinen sechsten Stock? Ein Mitreisender raunt, da säße die Sicherheitsbehörde und höre die allesamt verwanzten Zimmer ab. Da es hier ohne Internet und ohne andere verlässliche Quellen keine Möglichkeit gibt, irgendetwas zweifelsfrei zu bestätigen, bestimmen derlei Gerüchte und Kolportage-Storys die Gespräche der Reisenden untereinander.

So endet jeder Tag mit hundert neuen Fragen. Wo steht eigentlich der Wohnpalast des Machthabers Kim Jong-un? Hungern die Leute? Wie stellen sie sich die Welt nach dem Untergang der Sowjetunion vor? Was denken sie über uns? Der Führer vom Reiseunternehmen in Peking, der seit Jahren immer wieder Touristen hierher begleitet, sagt unbefriedigend oft: „Wir wissen es auch nicht.“

Plötzlich ist alles bunt

Die Ahnung um die Umstände, unter denen die Leute hier leben – der Drill, die Indoktrination, das Wissen um die Arbeitslager –, ist wie eine Brille, die abzusetzen unmöglich ist. Und doch gibt es Momente, in denen die Schatten verfliegen und sich kurze Momente von Leichtigkeit und Rührung einstellen. Anders als man es in einem sich als sozialistisch verstehenden Land vermutet, finden am 1. Mai keinerlei Paraden und keine Kundgebungen statt. Stattdessen lüftet sich die Glasglocke. In den Parks von Pjöngjang werden Picknicks veranstaltet, viele Leute haben frei, sie trinken selbst gebrauten milchigen Reiswein, spielen und tanzen. Für Studenten ist der Feiertag eine gute Gelegenheit, ihre zukünftigen Ehepartner zu treffen. Alle tragen Freizeitkleidung, Männer oft nur Unterhemden, überall sind Kinder. Plötzlich ist alles bunt. 

Selbst die Regenwolken, die bis zum Vortag über der Stadt hingen, scheint jemand abbefohlen zu haben. Statt misstrauisch und ängstlich schauen die Menschen neugierig, freundlich sogar. Als sich die Touristengruppe durch den Park bewegt, erfasst eine ältere Frau die Hände eines amerikanischen Reisenden, und die beiden tänzeln zu entfernt an Disko-Rhythmen erinnernde Musik aus dem Ghettoblaster durch die lustige Menge.

Als die Sonne schon tief über der Stadt steht und die Reisegruppe in eines der von der KITC betriebenen Restaurants gefahren wird, steht da auf einmal ein Sofa mitten auf dem Fußweg. Darauf sitzen zwei entspannt aussehende Nordkoreaner an ihrem Feiertag. Als die Touristen – so hatte man es ihnen eingebläut – gestikulierend fragen, ob sie die Einheimischen fotografieren dürfen, verneinen diese. Die Besucher bedauern, bedanken sich und gehen ihres Weges. 

Nur ein paar Augenblicke später ist das Möbel verschwunden. Samt derer, die auf ihm saßen. Der heitere, für hiesige Verhältnisse vielleicht sogar anarchische Moment: vorbei.

Lou Hennings war im Frühjahr 2014 für sieben Tage in Nordkorea.