Thema: Kultur

„Diesen Wunschtraum, irgendwie dabei zu sein, habe ich total gespürt“

In ihrem Debütroman erzählt Özge İnan eine türkisch-deutsche Familiengeschichte, geprägt von zwei Protestbewegungen. Ein Gespräch über die Gezi-Bewegung, Militärputsche und die Kommunikation mit Romanfiguren

Interview: Andrea Geißler
28. Juli 2023
Gezi Proteste 2013

In Özge İnans Debütroman „Natürlich kann man hier nicht leben“ reist ihre Protagonistin, die 16-Jährige Nilay, kurzerhand von Berlin in die Türkei, um sich den Gezi-Protesten anzuschließen. Dann springt die Handlung in die politisch turbulenten Jahre nach dem türkischen Militärputsch 1980: Damals lernten sich Nilays Eltern kennen, die sich politisch engagierten, bis sie ins Exil nach Deutschland flüchteten.

fluter.de: Deine Protagonistin Nilay ist 2013 zu Beginn der Gezi-Proteste1 16 Jahre alt – so wie du damals. Das ist schon eine auffallende biografische Parallele. Warst du selbst bei den Gezi-Protesten dabei?

Özge İnan: Ich habe damals die Gezi-Proteste auch extrem interessiert verfolgt, aber weniger naiv als Nilay im Roman. Diesen Wunschtraum, irgendwie dabei zu sein, den habe ich trotzdem total gespürt

Inwiefern warst du weniger naiv?

Ich komme aus einem politischen Haushalt, mein Vater war als Teil der linken Studentenbewegung unmittelbar von den Auswirkungen des Putsches 1980 betroffen. Aber bei uns wurde sowohl auf persönliche als auch auf politische Disziplin geachtet – dazu gehörte: Du kannst nicht, wenn du Schule hast, irgendetwas anderes machen außer Schule. Außerdem galt: Man muss rational sein und kann sich nicht so leicht von Gefühlen leiten lassen. Diese beiden Dinge haben dafür gesorgt, dass ich nicht wie Nilay einfach so ins Flugzeug nach Istanbul gestiegen bin, obwohl ich mir das eigentlich sehr gewünscht hätte.

Was waren damals deine Erwartungen?

Ich hatte schon große Hoffnungen. Vor allem hatte ich keinen Erfahrungsschatz, auf den ich zurückblicken konnte, um zu sagen: Das gab es doch schon mal, und dann ist auch nichts draus geworden. Damals hat es sich einfach angefühlt wie ein historischer Moment. Und es war ja auch einer, nur nicht mit einem direkten Ergebnis, sondern eher durch das, was da entstanden ist: diese Einigkeit, dass es so nicht weitergehen kann.

Wie siehst du heute, zehn Jahre später, die Auswirkungen der Gezi-Proteste?

Natürlich kann man hier nicht leben
„Natürlich kann man hier nicht leben“ von Özge İnan ist im Piper Verlag erschienen

Auf jeden Fall schaue ich auf eine oppositionelle Zivilgesellschaft in der Türkei, die von Gezi immer noch sehr inspiriert ist. Die verschiedenen Gegner des Erdoğan-Regimes standen einander bis dahin feindselig gegenüber, weil sie untereinander Rechnungen offen hatten. Allen voran die säkulare Rechte und die progressive Linke. Im Wahlkampf 2023 gab es noch einmal so einen Moment, wo diese Gräben zugemacht wurden (erstmals hatten sich bei dieser Wahl sechs Oppositionsparteien zusammengeschlossen und auf einen gemeinsamen Kandidaten gegen Erdoğan geeinigt, Anm. d. Red.). Das meine ich ausdrücklich wertfrei. Aber das ist dieser Gezi-Geist: dass man sich doch die Hände reichen muss, weil die Regierung einfach übermächtig ist.

Die Haupthandlung deines Romans spielt in den Jahren ab dem Militärputsch 1980 und erzählt die Geschichte von Nilays Eltern, die später aus politischen Gründen nach Deutschland fliehen. In der Türkei gab es ja eine ganze Reihe von Militärputschen – warum hast du ausgerechnet diesen in den Mittelpunkt gerückt?

Der Putsch 1980 und die Jahre der Militärregierung danach sind sehr stark im kollektiven Gedächtnis der Türkei präsent. Das hat sich den Leuten als Horror eingeprägt. Das Militär ist zwar Schutzmacht, aber auch Bedrohung im Hintergrund, die diese Republik immer begleitet – weil sie die demokratische Legitimation der Regierung nicht respektiert. Das Militär hat immer wieder bewiesen, dass es einschreitet, wenn ihm der Lauf der Dinge nicht passt. Auch mit dem Putschversuch 2016 (die türkische Regierung macht dafür die Gülen-Bewegung verantwortlich, da sie das Militär unterwandert haben soll, Anm. d. Red.) hat es gezeigt, dass es nicht integer ist. So etwas beeinflusst auch die Protestkultur eines Landes.

Was hat es mit den Militärputschen in der Türkei auf sich?

Die Liste der Militärputsche in der Türkei ist lang und geht auf die Verbindung einer politischen Elite und des Militärs zurück, die sich seit den nationalistischen „Jungtürken“ hartnäckig hält. Diese Bewegung entstand 1889 an der Militärischen Medizinschule in Istanbul. Von 1913 bis 1918 stellte sich eine diktatorische jungtürkische Komiteeregierung an die Spitze des Osmanischen Reichs, um ihre eigene Macht zu sichern und in Kleinasien ein „Nationalheim für Türken“ zu schaffen. Sie war für den Völkermord an den Armeniern verantwortlich.

Die politischen Ideen der Jungtürken prägten auch den Begründer der Republik Türkei, Mustafa Kemal, und sein politisches Wirken. Seine Gründungsideologie, der sogenannte Kemalismus, wurde 1937 in die türkische Verfassung aufgenommen. Das Militär versteht sich als Hüter dieses Kemalismus, insbesondere der Trennung von Staat und Religion, aber auch eines starken Nationalismus, der für die Identität von Minderheiten keinen Platz vorsieht. Zu große Abweichungen sollen verhindert werden. Militärputsche oder Putschversuche gab es in der Türkei seit der Staatsgründung in den Jahren 1960, 1971, 1980, 1997 und 2016. Der Putsch von 1980 gilt als der gewaltvollste. Zu dem Zeitpunkt herrschten in der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände mit Straßenkämpfen zwischen rechten und linken Kräften, Tausende Menschen wurden ermordet.

Generalstabschef Kenan Evren beanspruchte für sich, die Einheit und Ordnung des Landes wiederherzustellen. Er und seine Verbündeten entsandten Streitkräfte nach Ankara, besetzten politische Schlüsselpositionen, setzten die Regierung unter Süleyman Demirel ab, führten das Kriegsrecht ein und verboten alle politischen Parteien. Die Militärjunta verfolgte politische Aktivisten mit Verhaftungswellen, Folter und Todesurteilen. Verschärfte Gesetze schränkten die Möglichkeiten politischen Engagements stark ein – unter anderem wurde die kurdische Sprache verboten. In der Folge kam es zu einer Emigrationswelle insbesondere von Kurden, von denen viele in Deutschland Schutz suchten.

Protestierende fürchten also immer einerseits das Regime und andererseits das Militär?

Ja – da fällt mir eine Geschichte von meiner Cousine ein: Die kam uns mal in Deutschland besuchen, und das ist ein aufwendiger Prozess. Reisepass und Visum beantragen, viele Papiere einreichen, hohe Bearbeitungsgebühren etc. Die Deutschen machen den Ausländern, was Visa angeht, ja das Leben zur Hölle. Bei ihr hat das auch anderthalb Jahre gedauert. Als endlich alles fix war, haben wir gedacht: Was soll jetzt noch schiefgehen? Und sie sagte nur: Putsch! Das Thema ist derart präsent, dass man Witze darüber macht. Aber natürlich ist es nicht lustig.

Ich habe den Eindruck, dass die Geschichten der politischen Geflüchteten aus der Türkei, wie die von Nilays Eltern, bisher nicht so eine große Rolle gespielt haben in der deutschsprachigen postmigrantischen Literatur.

Das ist einer der Gründe, warum ich diese Geschichte erzählen wollte. Weil das auch für Deutschland superwichtig ist. Politische Migranten sind ja nicht nach Deutschland gekommen und waren dann plötzlich unpolitisch, sondern sie haben weitergemacht, haben sich engagiert, haben Kunst gemacht, Kultur geschaffen, Vereine gegründet. Das alles hat Deutschland geprägt, und ich habe das Gefühl, niemand hat es so recht mitbekommen.

Im Roman finden sich viele Details über die politische Protestbewegung Anfang der 1980er-Jahre, wie hast du die recherchiert?

Das war ein Wissensstand, auf den ich ziemlich einfach zurückgreifen konnte, weil meine Eltern und deren Freunde diese Zeit selbst erlebt haben und allesamt Menschen sind, die wahnsinnig gerne erzählen. Außerdem hatte ich an der Universität einen Kurs zu türkischem Verfassungsrecht, in dem die Dozentin sehr darauf geachtet hat, dass wir den historischen Kontext begreifen, weil die türkische Verfassung sehr geprägt ist von diesen historischen Zerwürfnissen zwischen Militär und Regierungen. Was ich dann noch meine Familie gefragt habe, waren Details: Was für eine Art Schreibmaschine habt ihr benutzt? Was für Waffen hatten die Polizisten?

Du schreibst normalerweise journalistische Texte oder bringst deinen Standpunkt in kurzen Tweets auf den Punkt – wie war es jetzt für dich, einen Roman zu schreiben?

Es ein ganz anderes Gefühl, ich fand es aber total schön, mit diesen Figuren so vertraut zu werden. Am Anfang ist der Schreibprozess sehr an der Handlung orientiert, und du willst, dass diese und jene Sachen passieren. Dann fragst du dich: Wie muss jemand drauf sein, damit er sich in so eine Situation überhaupt reinmanövrieren kann? Wenn die Figuren einmal da sind, ist es, als würde man mit ihnen kommunizieren.

Welche Figuren waren dir besonders wichtig?

Definitiv die Frauenfiguren. Die Hebamme von Nilays Mutter Hülya ist zum Beispiel ein Typus, der unfassbar oft in der Türkei vertreten ist: eine Frau, der es gelingt, in einer zutiefst frauenfeindlichen Welt ein erfülltes Leben zu führen, ohne sich selbst zu verraten. So ist es eigentlich mit allen Frauenfiguren in Hülyas Welt. Das zu formen war extrem schön, weil ich das Gefühl hatte, dass ich den Frauen ein Denkmal setze, die eben weder – wie sich der gemeine Europäer das vorstellt – total unterdrückt sind noch verblödet und verblendet. Zu diesen Frauen gehört natürlich auch Hülya selbst, die sich gegen die Migration so sehr wehrt, weil sie weiß, was auf sie zukommt, wenn sie in Deutschland schwanger wird oder mit Kind auf sich gestellt ist. Gerade für eine Frau, die in ihrer Heimat politisch so engagiert und mitten in der Gesellschaft war, ist es eine schlimme Erfahrung, woanders hinzukommen und von heute auf morgen sprachlos zu sein. Meine Mutter hat erzählt, dass sie diesen Begriff „sprachlos“ von ihren Freundinnen, die auf diese Art migriert sind, tatsächlich immer wieder gehört hat.

Özge inan

Özge İnan, Jahrgang 1997, hat Jura studiert, für das ZDF Magazin „Royale“ gearbeitet und ist heute Redakteurin bei der Wochenzeitung „Freitag“.

Foto: Leonardo Kahn

Titelbild: Araz Zeyniyev / Getty Images

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.