Fünf Jahre hat der Berliner Produktdesigner Burkhard Schmitz an dem Bürostuhl „Mirra“ gearbeitet. Und er ist nicht beleidigt, wenn man ihm sagt, dass man das dem Objekt nicht auf den ersten Blick ansieht. Sicher, der Stuhl mit der geschwungenen Rückenlehne und dem weichen Kunststoffpolster ist äußerst be- quem, ist höhenverstellbar, mobil und verfügt auch über die beliebte Drehfunktion. Das revolutionäre Wesen von „Mirra“ entdeckt man aber nicht, indem man sich auf den Stuhl setzt, sondern erst, wenn man die Einzelteile, die Rollen, Armlehnen und Schrauben genauer unter die Lupe nimmt. Jedes der Teile ist mit einem Code versehen, der Informationen über Material, Herkunft und Funktion enthält. Burkhard Schmitz möchte natürlich, dass die Computerprogrammierer, Versicherungsangestellten und Manager, die auf der ganzen Welt auf dem Stuhl der Firma „Herman Miller“ sitzen, das Möbelstück viele Jahre ver- wenden und dabei kein Rückenleiden davontragen – noch wichtiger aber ist ihm, dass der Stuhl, wenn er dann irgendwann kaputtgeht, nicht auf der Müllhalde landet. „Mirra besteht zu fast 100 Prozent aus wiederverwertbaren Teilen“, sagt Schmitz. Nach Gebrauch könne man den Stuhl zurück an die Firma schicken, die ihn auseinandernimmt und „aus den wertvollen Rohstoffen die nächste Produktgeneration baut“.
Der Designprozess für den Stuhl war extrem aufwendig: „Wir haben 30.000 verschiedene Kunststoffe analysiert“, erzählt Schmitz, „Polypropylen kommt in den verschiedensten Varianten vor, von essbar bis tödlich-toxisch ist alles drin.“ Schmitz testete zusammen mit seinem Team die Materialien. „Der Stuhl ist besser untersucht als der Schinken aus dem Supermarkt“, sagt er. Am Ende fand man einen Kunststoff, der günstig ist, gesundheitlich unbedenklich und äußerst langlebig: Das Material lässt sich bis zu 60 Mal wiederverwerten.
Der Stuhl „Mirra“ ist eines von bisher wenigen Produkten auf der Welt, welche das Siegel „Cradle to Cradle“ tragen, das der deutsche Chemiker und Umweltaktivist Michael Braungart zusammen mit dem US-Architekten William McDonough entwickelt hat. „Cradle to Cradle“ (dt. „Von der Wiege zur Wiege“) ist nichts weniger als der Versuch einer „zweiten industriellen Revolution“, ein System zu entwickeln, in dem die verwerteten Stoffe am Ende des Produktlebenslaufs nicht auf der Deponie (oder im Straßengraben) landen, sondern wieder in den Kreis- lauf eingespeist werden.
„Cradle to Cradle“-Prozesse werden mittlerweile unter anderem bei Teppichkonzernen, dem Autokonzern Ford und eben dem Möbelgiganten „Herman Miller“ eingesetzt. Das Modell für Braungart sind die Kreisläufe der Natur, „in der es keinen Abfall gibt, sondern nur Nahrung“. Die Produkte sollen frei sein von Restmüll und Rückständen, und aus Teilen bestehen, die biologisch abbaubar sind oder komplett wiederverwertet wer- den können. Kunststoff ist kein Wegwerfprodukt, sondern ein Nährstoff für den industriellen Metabolismus.
Wer nicht verantwortungsvoll gestaltet, sieht alt aus – und die Produkte auch
Das Mantra des Produktdesigns lautet seit einem knappen Jahrhundert „Form Follows Function“. Gut möglich, dass man diese Formel offiziell umschreiben und um einen dritten Faktor ergänzen muss: Nachhaltigkeit, Verträglichkeit, Bescheidenheit, wie immer man es nennen möchte. Gelungenes Design, schreibt Alice Rawsthorn, die Designkritikerin der „International Herald Tribune“, wird zu einer unglaublich komplexen Aufgabe: „Ob ein Produkt verantwortungsvoll gestaltet, entwickelt, hergestellt, vertrieben und verkauft wird, ist mittlerweile genauso wichtig, wie die Frage, ob es gut funktioniert.“
Die Arbeit von Burkhard Schmitz besteht also nicht mehr nur darin, einem Stuhl eine Form zu geben, die dem Auge und dem Körper gefällt, sondern „man muss auch alle anderen Phasen des Produktlebenslaufs berücksichtigen“: die Produktion, die Auslieferung, die Entsorgung. Schmitz blickt nicht nur auf Baupläne und Computerbildschirme, sondern hat immer auch das Bild des Erdballs im Hinterkopf, um den sich Geschäftsbziehungen und Transportwege ziehen wie rot glühende Linien. Bei der Komplexität und Größe des Weltmarkts kann es auch einem erfahrenen Designer manchmal schwindlig werden: „Der Mirra wird in einer Millionenauflage verkauft. Wenn ich den Stuhl nur zehn Gramm schwerer oder leichter mache, dann hat das einen enormen Einfluss auf die CO2-Emissionen, die beim Transport entstehen. Jede Entscheidung hat Folgen. Das ist eine große Verantwortung.“
Wir haben versucht, erzählt Schmitz, „den Stuhl so leicht wie möglich zu machen und so wenige Moleküle wie möglich zu verwenden“. Design auf der Molekularebene. Eine Folge des Minimalismus ist, dass der Stuhl sehr elegant und leicht aussieht. Auch das ist eine Lektion der Arbeit: Sparsamkeit und Selbstbeschränkung bringen eine interessante Form hervor. Verzicht ist schön.
Die Menschen haben über Jahrtausende die Ressourcen ihrer direkten Umgebung aufgebraucht, den Müll in der Natur entsorgt und sind, wenn die Rohstoffe aufgebraucht waren und der Lebensraum zur Müllhalde mutiert war, einfach weitergezogen – dieses Verhaltensmuster zieht sich von der Ära der Jäger und Sammler hinein bis ins Industriezeitalter. In den vergangenen 50 Jahren hat sich der globale Verbrauch von Nahrungsmitteln und Frischwasser verdreifacht, der Verbrauch von fossilen Energiequellen hat sich gar vervierfacht. „Wir leben in einer vollen Welt“, schrieb kürzlich das populärwissenschaftliche Magazin „Scientific American“, „die Rohstoffe sind ebenso limitiert wie die Fähigkeit des Planeten, Abfallprodukte zu absorbieren“. Der doppelte Druck von Klimakrise und „Peak Oil“, dem Zuviel von Abgasen und dem Zuwenig von Rohstoffen, wird das Leben und unseren Umgang mit Produkten fundamental verändern. „Das bloße Weitermachen ist kriminell, die bloße Verzichtsethik ist naiv. Dazwischen liegen die intelligenten Wege“, sagte der Philosoph Peter Sloterdijk nach dem gescheiterten Klimagipfel von Kopenhagen, der bei der Lösung des Problems nicht auf Politiker, Wähler oder gar Manager setzt, sondern auf die Designer. Für den deutschen Großdenker Sloterdijk sind „Designer und Architekten mit multipolarer Ingenieursintelligenz die Helden des 21. Jahrhunderts“. Er setzt auf Konzepte wie „Cradle to Cradle“, „ein verfahrensorientiertes Design, das Gesamtrechnungen aufstellt und sich nicht mehr mit Endproduktästhetik begnügt“. Es klingt, als hätten Burkhard Schmitz, der an der Universität der Künste in Berlin auch junge Designer ausbildet, und seine Kollegen eine ziemlich interessante Karrierephase vor sich
Einer entwirft sogar ein Luftschiff
In diesem Sommer findet in Berlin das Designforum BerliNordik statt, in dem Designer aus Berlin und fünf nordischen Ländern eine Antwort finden sollen auf die Frage „Wie kann Produktdesign mehr Verantwortung für ein anderes Leben übernehmen?“ Da gibt es eine Berliner Designerin, die Möbel aus alten Schubladen macht. Oder das Büro Ett La Benn, das die Lampe „Malva“ vorstellt, deren Schirm aus gehärteter Viskose und Cellulose besteht, und die man, wenn man von dem eleganten schwarzen Leuchtkörper genug hat, zusammen mit Eierschalen und alten Äpfeln auf dem Komposthaufen entsorgen kann. Oder den Norweger Adrian Paulsen, der eine mit Nanotechnologie ausgestattete Boje entworfen hat, die den Schadstoffgehalt im Hafenwasser misst, und, sobald eine gewisse Grenze überschritten, die Farbe wechselt und gleichzeitig lange Arme ausfährt wie eine Qualle, die die Schadstoffe aus dem Wasser filtert. Die Boje ist Warnsignal und Wischmopp zugleich.
„Ökobilanz“, „Nachhaltigkeit“, „Green Design“ sind im 21. Jahrhundert ein Verkaufsargument, das Hersteller auf das Produkt kleben wie ein Preisschild oder den orangen Klebepunkt mit der Aufschrift: „Um 40 Prozent reduziert.“ Es gibt kleine Spielereien, kluge Ansätze und große Lügen – immer wieder geht die Verbraucherzentrale per Abmahnung gegen Werbean- zeigen und Behauptungen von Firmen vor; zum Beispiel sollen Autohersteller den Slogan unterlassen, ein Elektroauto fahre „ohne Abgase“, denn der Großteil des Stroms kommt schließlich immer noch aus nicht regenerativen Energiequellen. Und wenn Nike nun mitteilt, dass die Trikots, in denen acht Nationalmannschaften, darunter die der Niederlande und Brasilien, bei der Fußball-WM in Südafrika auflaufen werden, aus geschredderten PET-Flaschen bestehen, dann nicht unbedingt, weil es billiger ist, sondern wegen des globalen Werbeeffekts. Der Konzern hat aber auch den Trash Talk Basketball-Schuh vorgestellt, der aus Fabrik- und Lederabfällen hergestellt wird. Nike lässt sich bei der Produktion eines schadstofffreien und komplett recyclebaren Turnschuhs auch vom Cradle-to-Cradle-Propheten Michael Braungart beraten. Bereits 2011 sollen alle neu entwickelten Schuhe des US-Mutterhauses dem „Considered Design“-Standard entsprechen – und Nike verkauft immerhin 250 Millionen Paare pro Jahr, davon sechs Millionen in Deutschland. Der erste Ökoschuh aus dem Jahr 2005 sah noch aus, als hätte man ihn aus Leder, Jute und grobem Garn zusammengenäht.
Der Designer und Ökovordenker Victor Papanek meinte mal, dass sein Job vor allem darin bestehe, dass man Menschen dazu überrede, mit Geld, das sie nicht haben, Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, um Nachbarn zu beeindrucken, denen das aber egal ist. Das klingt nicht nach einer sinnvollen Aufgabe. Vielleicht ist es nun an den Designern und Architekten, ihre Verführungskraft auf eine andere Art und Weise einzusetzen. „Nicht nur bessere Produkte entwerfen“, meint Friedrich von Borries, Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, sondern auch „Bilder, die zeigen, wie ein anderes Leben und Wirtschaften aussehen könnte“. Der Architekt Buckminster Fuller zum Beispiel hat schon vor 50 Jahren futuristische Kuppeln entworfen, und davon geträumt, jeden Sonnenstrahl einzufangen, der die Erde erreicht. Und der junge belgische Architekt Vincent Callebaut baut in seinem Computer immer wieder Objekte und Strukturen, die direkt vom Set eines Science-Fiction- Films von Steven Spielberg stammen könnten – zum Beispiel ein urbanes Luftschiff, das mehrere Tausend Menschen beherbergt und von Biomassereaktoren betrieben wird, die mit Algen arbeiten. „Technisch ist das noch nicht umzusetzen“, sagt Friedrich von Borries, „aber wir brauchen erst neue Ideen, bevor wir uns ans Zeichnen der Baupläne machen können.“