fluter.de: Herr Leistner, in Deutschland gehen seit den Enthüllungen um das Treffen von Rechtsextremen in Potsdam Tausende Menschen auf die Straßen. Hat Sie das überrascht?

Alexander Leistner: Der Charakter der Proteste ist ungewöhnlich. Dass die Demonstrationen, die zunächst als eine spontane Reaktion begonnen hatten, dann schnell so groß wurden, damit hatte ich nicht gerechnet. Es gab einen Ansteckungseffekt, der bis heute anhält und der Menschen mitreißt, die sonst nicht protestieren gehen würden – auch in ländlich-kleinstädtischen Regionen in den östlichen Bundesländern, in denen das politische Klima zuletzt sehr bedrückend war.

Wieso erscheinen die Demonstrationen gegen rechts gerade in Ostdeutschland so bedeutend?

Dort standen in den vergangenen Jahren extrem rechte Akteure im Vordergrund, man erinnere sich an die Pegida-Bewegung. Der AfD ist es gelungen, mit der Migration ein Thema zu besetzen, das in der Gesellschaft viel diskutiert wurde. Damit haben sie viele mobilisiert. Auf den Straßen kam es ab 2020 zu Protesten gegen die Corona-Maßnahmen, die teilweise von der extremen Rechten dominiert wurden. Das hat verschiedene Gründe – in vielen Orten gibt es Kontinuitäten seit den flüchtlingsfeindlichen Protesten ab 2014/2015, sehr gut vernetzte Akteure und ein politisches Klima der Normalisierung des Rechtsextremismus. Gegenbewegungen gab es auch – zum Beispiel „Unteilbar“ im Jahr 2018 (heute „Hand in Hand“, Anm. der Red.), das als Reaktion auf rechte Ausschreitungen in Chemnitz und Köthen entstand. Jetzt haben wir folgende Situation: Die AfD ist stark. Der Landesverfassungs-schutz in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen stuft die jeweiligen Landesverbände der AfD in den drei Bundesländern als „gesichert rechtsextremistisch“ ein. In drei ostdeutschen Bundesländern stehen Landtagswahlen an, die Pläne aus Potsdam wurden bekannt. Unter anderem dadurch entsteht eine zunehmende Drohkulisse, die bei vielen Menschen in den ostdeutschen Bundesländern das Bewusstsein schärft, dass wir es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem mit Rechtsextremismus zu tun haben.

 
Demo in Dippoldiswalde

Die erste Demo gegen Rechts in Dippoldiswalde   (Foto: Nora Börding)

Auch in ostdeutschen Kleinstädten wie Grimma oder Dippoldiswalde positionieren sich deshalb nun viele Menschen gegen rechts. Doch aus Angst vor Anfeindungen wollen viele ihre Namen nicht der Presse nennen. Ist diese Angst begründet?

Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, die sich in den letzten Jahren in der Zivilgesellschaft engagiert haben, extrem angegangen wurden. Jakob Springfeld hat zum Beispiel als erster Jugendlicher in Zwickau Fridays-for-Future-Proteste organisiert und wurde dafür bald von Rechten bedroht. Man schlendert in diesen Gegenden nicht einfach zu einer Demonstration, ohne darauf zu achten, wer sonst noch unterwegs ist, wer hinter einem herläuft – oder einem vielleicht bis zur Wohnungstür folgt. In ländlichen Gegenden und Kleinstädten kann es weitreichende Konsequenzen haben, sich politisch zu positionieren.

Wie meinen Sie das? 

Ein Sportverein ist in der Regel abhängig von Sponsoren, die vielleicht kein Geld mehr geben, wenn der Verein ihre Werte nicht vertritt, und ein Handwerker kommt aus politischen Gründen nicht mehr ins Haus. Feindbilder spitzen sich schnell zu und führen dazu, dass es zum Beispiel einen Brandanschlag auf das Haus eines Demo-Organisators gibt wie in Waltershausen im Landkreis Gotha. In Orten, in denen jeder jeden kennt, ist das alles sehr real. Andersherum kann eine Demonstration in so einem Nahbereich auch große positive Effekte haben.

Inwiefern?

Etwa wenn man in Dippoldiswalde mit 800 Menschen auf dem Markt steht und sich fragt, wo denn diese ganzen Leute herkommen. Oder wenn man dort jemanden trifft, der einem im Alltag oft begegnet, und man sich bisher nicht sicher war, für was er oder sie steht. Das schweißt zusammen und stärkt die Zivilgesellschaft im Kleinen. Diese Demonstrationen sind für viele unterschiedlich wichtig: Einige sind durch sie aufgewacht, andere waren bereits resigniert und sehen nun – da steht ja noch jemand neben mir.

Wird dieses Gefühl anhalten, oder verpufft die Wirkung schnell wieder?

Dass so große Straßenproteste lange anhalten, ist nicht sehr wahrscheinlich – dafür ist der organisatorische Aufwand zu groß. Aber nur weil die Bewegung auf der Straße ihren Anfang gefunden hat, muss sie nicht dort fortgeführt werden oder enden: An einigen Orten ist dadurch wieder eine demokratische Zivilgesellschaft entstanden, die es vielleicht kaum noch gab, an anderen wurden neue Bündnisse geschmiedet,  die vielleicht politisch nicht für das gleiche stehen oder für die gleichen Themen kämpfen, aber sich ab jetzt zusammen für mehr Demokratie und gegen rechts engagieren. Der Protest besteht so weiter, nur in anderer Form.

Alexander Leistner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig. Er forscht zu sozialen Bewegungen und Protest.

Portrait: privat; Titelbild: Ashkan Shabani/Redux/laif