Thema – Erinnern

Suchen Newsletter ABO Mediathek

„Die imperiale Selbstgefälligkeit Europas“

Kollektives Erinnern ist durch den Westen dominiert, kritisiert der ghanaische Historiker Kofi Baku – und fordert: Dem müssen afrikanische und asiatische Historiker ihre Version der Geschichte entgegensetzen

Kofi Baku forscht an der University of Ghana in Accra zum Thema Geschichtsschreibung aus postkolonialer Perspektive. Dabei geht es darum, in der Geschichte der kolonialen Unterwerfung vieler afrikanischer und asiatischer Länder durch europäische Mächte offenzulegen, in welchen Lebensbereichen dort auch heute noch alte Herrschaftsstrukturen fortbestehen – wie etwa in der Erinnerungskultur. Dagegen, so seine Überzeugung, muss ein intellektueller Widerstand organisiert werden. 

fluter.de: Was verstehen Sie unter intellektuellem Widerstand gegen Kolonialismus? 

Kofi Baku: Darunter verstehe ich, dass man sich mit intellektuellen, juristischen, verfassungsmäßigen, sozialen und wirtschaftlichen Argumenten dem Kolonialismus widersetzt. Man findet diesen Widerstand in allen möglichen Zusammenhängen: in Schriften, in Zeitungsartikeln, in Journalen, in Flugblättern, in Vorlesungen.

Was bedeutet es für Sie, im historischen Gedenken Widerstand gegen Kolonialismus zu leisten? 

Kollektives Erinnern wird ja in vielen Formen zementiert, typischerweise in Kunstwerken, in intellektuellen Diskursen und akademischen Publikationen, aber auch physisch manifestiert in Museen und historischen Stätten. Und oft wohnt dem noch die Perspektive der alten Kolonialisten inne. Manchmal läuft dieses historische Gedenken subtil ab, dadurch aber nicht weniger wirkungsvoll, – etwa in Form von Gesetzen und sozialen Vereinbarungen. Wer sich nun diesen kolonialen Übergriffen widersetzt, wählt selbst die Aspekte der Vergangenheit aus, mit denen er oder sie argumentieren möchte. Die durch Kolonialismus geschädigte Person entscheidet, dass dies die Aspekte der Geschichte sind, die gegen koloniale Übergriffe in Stellung zu bringen sind. 

Das klingt ein wenig nach Rosinenpicken. Warum soll das hilfreich sein, wenn es darum geht, zu einer umfassenderen Sichtweise des Kolonialismus in der Geschichtsschreibung zu kommen? 

Das Argument des Rosinenpickens greift da nicht. Geschichtsschreibung ist immer selektiv. Wie in jeder akademischen Disziplin beginnt auch der Historiker seine Forschung mit einer bestimmten Hypothese und sucht dann Aspekte, die sie untermauern. In der postmodernen Theorie geht man ja davon aus, dass es eine objektive Realität gar nicht gibt. Alles, worüber wir schreiben, wie wir die Welt wahrnehmen und sie interpretieren, ist geprägt durch unsere Erziehung, unsere kulturellen Normen, unsere Eigenheiten und Präferenzen. Insofern ist der Historiker der Vermittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Den Teil der Geschichte, an den wir uns erinnern wollen, betrachten wir dann als unsere Geschichte. 

 „Was früher als koloniale ökonomische Unterwerfung galt, wurde nur neu verpackt und mit dem Label Auslandsinvestition versehen“

Wie geht denn Ghana mit seiner kolonialen Vergangenheit um? 

Wir leben hier immer noch mit einigen inakzeptablen Erscheinungsformen des Kolonialismus. Dass unserer lokalen Kultur in großem Umfang europäische Ideale aufgezwungen wurden, etwa in Form des englischen Common Law, ist immer noch hochaktuell und umstritten. Die Kolonialisten mögen gegangen sein, doch ihr Erbe ist noch nicht verschwunden. Auch die Argumente gegen die wirtschaftliche Vorherrschaft durch Ausländer gelten weiter: Was früher als koloniale ökonomische Unterwerfung galt, wurde nur neu verpackt und mit dem Label Auslandsinvestition versehen. 

Werden die gebraucht, um die Wirtschaft eines Landes wie Ghana zu entwickeln? 

Glauben wir denn wirklich, dass wir nur dann erfolgreich sein können, wenn diejenigen, die uns einst kolonialisiert haben, nun als Partner wiederkommen und in unser Land investieren? Die vollständige Übernahme westlicher Systeme führt dazu, dass die ghanaische Identität – unsere Kultur, unsere Werte, unsere Religion – weiter erodiert. Alles ist davon betroffen: von den ganz alltäglichen Dingen über unsere Normen, unsere sozialen, legalen und ökonomischen Institutionen bis hin zu unserem Konzept von Realität und auch unseren Fähigkeiten. Da ist intellektueller Widerstand immer noch dringend nötig.

kofi_baku.jpg

Kofi Baku (Foto: privat)

Kofi Baku ist Historiker an der University of Ghana in Accra

(Foto: privat)

Es gibt diesen Widerstand in ehemals kolonialisierten Ländern vielerorts ja schon. Warum haben westliche Wissenschaftler so lange keine Notiz davon genommen? 

Gleichgültigkeit ist das Herz des Kolonialismus. Es liegt in der Natur der kolonialen Unterwerfung, sich für die Ideen und Anliegen der Unterworfenen nicht zu interessieren. Eroberer fühlen sich grundsätzlich immer überlegen, haben aber nicht die Absicht, sich um die Belange der Eroberten zu kümmern. Sie denken, dass sie ein Mandat haben, diese Menschen, die sie für minderwertig halten, zu zivilisieren.  

Wie hätte sich das ausgewirkt, hätten westliche Historiker frühzeitiger versucht, den Kolonialismus mit den Augen der kolonialisierten Menschen zu betrachten?

Die imperiale Selbstgefälligkeit Europas hat westliche Wissenschaftler lange davon abgehalten, sich mit den intellektuellen Angeboten zu befassen, die es in den früheren Kolonien gibt. Hätten sie den Kolonialismus je mit den Augen der Menschen gesehen, die ihn selbst erfahren haben, wäre er zu Ende gewesen, bevor er überhaupt richtig losging. Das hätte den ganzen Zweck der Unterwerfung zunichtegemacht. Das Nichtbeachten des Widerstands der Unterworfenen ist ein zentraler Wesenszug des Kolonialismus. Allerdings: Weil die kolonialisierten Völker viele westliche Praktiken übernommen haben, durften die Kolonialisten irrtümlich annehmen, die Völker seien mit ihrer Unterwerfung einverstanden. 

Wie kann verhindert werden, dass diese hegemoniale Perspektive auch in Zukunft noch die Erinnerungskultur prägt?

Wenn wir wollen, dass unsere Version der Geschichte wahrgenommen wird, müssen wir beginnen, sie systematisch zu erfassen. Nur so wird sie von Dauer sein. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: „Die blasseste Tinte ist klarer als die klarste Erinnerung.“ Wenn wir die Dinge nicht aufschreiben, werden sie verschwinden. Aber im Moment tun wir noch nicht genug dafür, um die Geschichte aus unserem Blickwinkel zu erzählen. Deshalb müssen wir unserer Geschichtswissenschaft mehr Ressourcen zur Verfügung stellen, damit sie zum Beispiel die mündlich überlieferte Geschichte bisher unterdrückter Menschen erfassen kann. 

Titelbild: Torfinn/laif

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.