Vielleicht haben ja seine einschneidenden Erfahrungen in Sibirien dazu beigetragen, dass Eduard Burza (48) sich später im Leben als Schauspieler auf den Bereich Kampfchoreografie spezialisiert und in diversen Selbstverteidigungstechniken geübt hat. Der gebürtige Weißrusse, der in der DDR aufgewachsen ist, wollte 1988 als Schulabgänger noch einmal der Enge von Honeckers Staat entfliehen – und machte sich von Leipzig aus über Moskau und Irkutsk auf in Richtung Baikal. Da er sowjetischer Staatsbürger war, konnte er problemlos durch die Sowjetunion reisen, was für DDR-Bürger nur eingeschränkt möglich war. Burzas Erinnerungen daran, wie er als junger Mensch erst mal Russlands wilden Osten betrat und inmitten des Ostblocks plötzlich ein völlig anderes, freies Leben kennenlernte, beleuchten ein selten betrachtetes Stück Sowjetunion. Zugleich haben seine Erfahrungen bis heute Gültigkeit: Trotz der Pläne, langfristig die großen Erdölvorkommen unter der sibirischen Taiga zu erschließen, die durch die Klimaerwärmung leichter zugänglich werden, geht das Leben in großen Teilen dieser unermesslichen Landschaft weiter seinen althergebrachten Gang. Burza, der heute als Schauspieler und Kampfchoreograf in Berlin lebt, war gerne bereit, uns noch einmal von seinen wilden Wochen in Sibirien zu erzählen. Die Geschichte beginnt damit, wie er damals in einem kleinen Ort am Baikalsee aus dem Zug stieg und sich eigentlich auf eigene Faust in die Taiga aufmachen wollte.
fluter.de: Warum haben Sie sich das zugetraut, so ganz allein in die Wildnis zu gehen?
Eduard Burza: Das war pure Naivität. Ich hatte ja kaum Outdoor-Erfahrung. Und ich weiß nicht, ob ich hier jetzt sitzen würde, wenn ich nicht einen Einheimischen kennengelernt hätte, der sagte: „Mein Onkel will morgen für ein paar Wochen in den Wald gehen, vielleicht kannst du mitgehen.“ Also traf ich Wasja in einer nahe gelegenen Hütte: Da saß er in abgetragenen Militärklamotten, hatte ein verwittertes Gesicht, und ein paar Zähne fehlten ihm auch. Der war erst 34, aber für mich sah er aus wie 50. Wir haben Wodka getrunken, und er wollte wissen, was mich in die Taiga zog. Dann hat er mir erklärt, was er im Wald macht: dass er dort die Nüsse aus den Zapfen der Sibirischen Kiefer erntet, die zur Arzneimittelherstellung verwendet und gut bezahlt werden. Er hat gesehen, dass ich halbwegs fit war, und hat schließlich gesagt: „Morgen gehen wir los.“
In welche Region sollte es gehen?
Ich habe später versucht, das zu rekonstruieren. Aber es gab keine genauen Karten. Wasja selbst konnte mir nur die grobe Richtung nennen, dass wir ein paar hundert Kilometer von der mongolischen Grenze entfernt waren. Ansonsten drückte er die Routen nur in Tages- beziehungsweise in Wochenmärschen aus. Zuerst sind wir mit so einem Klapperbus eine ganze Tagesreise lang ins Nirgendwo gefahren. Bis er plötzlich an irgendeiner Stelle „Halt!“ rief. Dann ist er schnurstracks losmarschiert. Da war noch nicht mal Wald zu sehen. Nur irgendwo in der Ferne Berge. Nach zwei Stunden Fußmarsch hat er plötzlich angefangen zu buddeln – bis eine Flinte zum Vorschein kam. Die durfte er eigentlich gar nicht mehr besitzen, wie er mir später erzählte.
Wieso nicht?
Als wir schon ein paar Tage in der Wildnis waren, sagte er eines Abends, er wolle mir jetzt mal erzählen, mit wem ich es hier zu tun habe. Wasja stellte sich als Ex-Knacki heraus, und als solcher durfte er gar keinen Jagdschein und keine Waffen besitzen. Also verbuddelte er seine Waffen immer am Rande der Taiga.
Wieso hatte er im Gefängnis gesessen?
Weil er bei einer Prügelei einen Menschen totgeschlagen hatte. Da muss man die Vorgeschichte kennen: Er war vorher bei einer Spezialeinheit in der Arktis gewesen. Und seine Kindheit hatte er als Waise hauptsächlich bei einem burjatischen Jäger in den Wäldern verbracht. Der war eine Legende in dem Ort und wurde wegen seiner besonderen Fähigkeiten nur der „Schamane“ genannt. Die Schule hatte Wasja auch besucht, aber in den Ferien ist er immer wieder mit dem Jäger mitgezogen und hat von ihm alles gelernt – auch seinen Eigensinn, der ihm später zum Verhängnis geworden ist.
Inwiefern?
Als Wasja eingezogen wurde, war er ein wilder Bengel. In der russischen Armee gab es die Prügelstrafe. Inoffiziell, aber sie wurde praktiziert. Und bei Wasja wurde sie sehr bald fällig. Wasja aber zahlte es denen sofort heim, weshalb sie ihn dann zur Strafe in eine Sondereinheit in der Arktis verlegten – wo er dann noch mehr Kampftechnik gelernt hat. Die hat er nach dem Ende seiner Armeezeit angewendet, als er in eine Prügelei verwickelt wurde. Er hat den Menschen totgehauen, einfach weil er wusste, wie das geht. Nachdem er seine fünf Jahre abgesessen hatte, konnte er keinen normalen Job mehr annehmen. Und er wollte sowieso wieder in die Wälder. Also lebte er abwechselnd dort und in dem Ort Baikals bei seiner Geliebten.
Und wie ging das Leben in der Wildnis für Sie weiter?
Sehr anstrengend. Wir haben allein anderthalb Tage gebraucht, um in die Berge zu gelangen. Zum Teil ging es über Schwingmoore, wo der ganze Untergrund wabert und man von Schwärmen von Fliegen und Mücken malträtiert wird. Als wir endlich im Wald ankamen, ging es noch mal zwei, drei Tage nur bergauf. Querfeldein, was wahnsinnig anstrengend ist. Auf einer Höhe von 2.000 Metern haben wir mit der Arbeit begonnen und in Blockhütten gelebt, die sich die Jäger dort errichtet haben. Mit Natur genießen war nicht viel.
Worin bestand die Arbeit?
Für die Zapfenernte mussten wir eine Vorrichtung bauen, so einen Klotz, der an einer langen Stange baumelte. Diesen Riesenhammer musste man gegen die Bäume schwingen, damit die Zapfen runterfielen. Vorher hatten wir eine Mühle gebaut: einen großen Kasten, in dem sich als Mahlstein ein Holzrad mit Nägeln befand, das mit einer Kurbel angetrieben wurde. Ganz nebenbei muss man noch Wasser holen, kochen und jagen.
Wovon haben Sie sich ernährt?
Als Proviant hatten wir fast ausschließlich Nudeln dabei, weil die am wenigsten Gewicht haben. Einen Teil des Proviants deponiert man aber in den Blockhütten. Das ist die Übereinkunft, so gibt es in den Hütten für den absoluten Notfall immer etwas zu essen. Man darf diese Vorräte unter keinen Umständen ganz aufbrauchen. Deshalb mussten wir irgendwann jagen: Bergziegen, Krähen, Eichhörnchen, die wir mit Bärlauch zu Suppe verarbeiteten. Zur Not konnte man auch mal die Nüsse der Kiefern essen.
War es ein Gefühl der Freiheit oder eher beängstigend?
Eine Mischung aus beidem. Manchmal hab ich mich schon gefragt, was ich da tue. Du läufst jetzt hier irgendwohin mit einem Menschen, den du nicht kennst, in eine völlig unbekannte Gegend, wo dich im Zweifel niemand findet. Wasja hatte zudem ein krasses Tempo am Leibe. Ich sah ihn oft nur noch von ganz weitem und dachte: Dranbleiben. Wenn der jetzt weg ist, dann gute Nacht.
Was sind denn die größten Gefahren da draußen?
Die größte Gefahr ist einfach, dass du dich verletzt und nicht mehr laufen kannst. Die nächstgrößte Gefahr ist, dass du dich verläufst. Das ist mir ein paar Mal passiert. Beim Wasserholen. Einmal zog ein Unwetter auf, und ich verlor jegliche Orientierung. Statt einer Stunde, wie geplant, war ich vier Stunden unterwegs. Wasja hat mich dann aufgrund meiner Fußspuren aufgespürt und rausgeholt. Danach hat er den halben Tag geflucht, warum er sich das mit mir aufgehalst hat. Andererseits hat ihn beeindruckt, dass jemand extra aus Deutschland bis nach Sibirien gefahren ist, um an seinem Leben teilzuhaben.
Und was ist mit gefährlichen Tieren?
Zweimal haben wir Bären gesehen und jede Menge Bärenspuren. Wasja verbat mir strikt, Bärenpfade entlangzulaufen, auch wenn es bequem gewesen wäre. Wenn du Bären hinterherläufst, wittern sie dich, warten auf dich und hauen dich um. Ansonsten könnten einem noch die Luchse gefährlich werden. Aber nur, wenn man schon körperlich angeschlagen ist. Dann ziehen sie ihre Kreise und warten, bis du nicht mehr kannst. Die eigentliche Gefahr geht dort aber nicht von Tieren aus, sondern von anderen Menschen.
Von wem?
Wenn jemand aus dem Knast flieht, zieht er in die Wildnis. Es gab viele Fälle, dass Jäger totgeschlagen wurden. So kommt man an eine Waffe und kann sich erst mal eine Zeitlang durchschlagen. Ich selbst wurde einmal für einen entflohenen Sträfling gehalten. Ich war wieder auf Wassersuche und kam an eine Blockhütte, wo mich zwei Männer mit vorgehaltener Waffe empfingen. Bis Wasja kam und das geklärt hat. Die beiden waren zuvor beklaut worden und dachten, ich sei der Dieb. In der Gegend da kannten sich in einem Radius von Hunderten von Kilometern alle. Und als Fremder fiel man sofort auf.
Wer fängt die Flüchtigen in der Wildnis, die Polizei?
Nein, das machen die Jäger und Sammler dort selber. Die üben Selbstjustiz. Oft schon wurden solche Leute aufgehängt. Staatliche Gewalt, Recht und Gesetz – das sind dort dehnbare Begriffe. Es gibt einfach nicht diesen Zugriff der staatlichen Autoritäten. Wasja war dann auch, nachdem die beiden Männer von dem Diebstahl berichtet hatten, deutlich angespannt. Er entdeckte überall Fußspuren und gab den Befehl, selbst möglichst wenig Abdrücke zu hinterlassen.
Ist der Dieb denn noch aufgetaucht?
Einige Tage später hörten wir weit entfernt Motorenlärm. Wasja sprang auf und lief hin. Er kam erst einen Tag später wieder und berichtete: Das waren Bekannte von ihm, die ebenfalls die Nüsse der Sibirischen Kiefer sammelten. Die hatten sich einen Armeelaster geliehen, um ihre Ausbeute abzutransportieren. Einen Tagesmarsch entfernt gab es eine alte Militärstraße, die noch befahrbar war. Wasja hatte sie überredet, uns gegen eine kleine Beteiligung an unserer Ausbeute mit zurückzunehmen. Und dann erst ließ er die Katze aus dem Sack: Die Bekannten hatten auch den Dieb festgesetzt, nachdem der bei ihnen geklaut hatte. Als wir mit Sack und Pack dort ankamen, saß der Mann gefesselt auf dem Laster.
Was haben die mit ihm gemacht?
Die wollten ihn aufhängen, und ich habe wie wild dagegen argumentiert: Das könnt ihr nicht machen! Aber die haben mich nur entgeistert angeguckt und gesagt: „Wenn der uns bestiehlt, riskiert der auch unser Leben. Der bringt uns eigentlich um.“ Aber nach viel Betteln und Flehen meinerseits haben sie ihn dann am Leben gelassen. Aber sie haben ihm alles genommen, seine Schuhe ausgezogen und ihm die Arme gefesselt, bevor wir losfuhren. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Von dort sind es zwei Tagesmärsche bis ins nächste Dorf.
Ging es Wasja beim Leben in der Wildnis eher um das Geld, das er mit den Zapfen verdienen konnte, oder um die freie Lebensweise?
Nachdem wir das Zeug verkauft hatten, waren wir für die Verhältnisse dort reich und haben eine Woche lang nur gefeiert. Wasja hat fast sein ganzes Geld auf den Kopf gehauen. Von einem kleinen Rest hat er sich wieder Proviant und Ausrüstung gekauft und ist zurück in den Wald gegangen. Vor allem ging es ihm wohl um die Freiheit.
Eduard Burza lebt mit seiner Familie in Berlin und arbeitet als Schauspieler und Kampfchoreograph.
Die russische Fotografin Danila Tkachenko hat in der Fotoarbeit „Escape“ Einsiedler in den Wäldern Russlands fotografiert – und wie die Welt aussieht, wenn man sie mit ihren Augen betrachtet. Das kann man auf den Bildern oben sehen.