Barbara von Dohnanyi-Bayer, 79, ist die Tochter von Hans von Dohnanyi, einem Widerstandskämpfer im Dritten Reich. Ihr Onkel war der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Beide wurden 1945 vom NS-Regime ermordet. Barbara von Dohnanyi-Bayer lebt in München und hat einen Sohn und eine Tochter.
Ich habe uneingeschränkte Freiheit zum ersten Mal in meinem erwachsenen Leben gespürt, als meine Mutter, mein Bruder Christoph und ich kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit einer amerikanischen Militärmaschine aus Berlin nach Westdeutschland ausgeflogen wurden. Es war der Entschlossenheit unserer Mutter zu verdanken, dass wir auf der Seite des Eisernen Vorhangs leben konnten, die eine freie Entfaltung ermöglichte. Die Freiheit, die Kinder zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit und Freude am Leben benötigen, haben uns unsere Eltern trotz Sorgen und schwerer Zeiten in vollem Umfang gegeben. Wir hatten eine ungetrübte, vergnügte Kindheit.
Freiheit ist für mich sehr eng verknüpft mit geistiger Freiheit. Sie ist die Grundlage für Toleranz und die Anerkennung des Andersdenkenden. Als meine Brüder und ich noch klein waren - ich bin 1926 geboren -, hat meine Mutter mit uns oft das Lied "Die Gedanken sind frei" gesungen. Sie hat es mit Leidenschaft gesungen, ohne dass wir damals, Anfang der 1930er-Jahre, die politische Bedeutung des Liedes erahnt hätten. Bei mir und meinen Brüdern Klaus und Christoph formte sich durch die Erziehung meiner Eltern schon früh eine sehr klare Wertehaltung, nicht allein in Bezug auf Freiheit, sondern auch auf Verantwortung, Anstand, Ehrlichkeit und Moral. Der bedingungslose Einsatz meines Vaters im Widerstand gegen Hitler hat diese Haltung für unser Leben geprägt. Die Verhaftung meines Vaters, meiner Mutter und ihres Bruders Dietrich Bonhoeffer im Jahr 1943 war ein schwerer Schock. Mein Vater wurde in seinem Büro, meine Mutter zu Hause in Gegenwart meines Bruders Christoph und mein Onkel bei seinen Eltern von der Gestapo verhaftet. Alle Verhaftungen zur gleichen Stunde - die Nazis hatten es präzise geplant, damit keine Kontakte mehr aufgenommen werden konnten. Das Gefühl von Unfreiheit, das sich durch die Verhaftung meiner Familie einstellte, hat für mich einen schweren Einschnitt in mein Leben bedeutet. Ich habe es schmerzhaft vermisst, nicht frei fühlen und reden, mich nicht frei bewegen zu können und meine Eltern nur in Gefangenschaft sehen zu dürfen. Auch Freundschaften wurden dadurch belastet, dass man über so einschneidende Erlebnisse nicht sprechen konnte. Trotzdem blieben es Freundinnen, das ist im Kindes- und Jugendalter etwas anderes. Man ist weniger streng, weniger rigoros in seinen Trennlinien. Ich hatte eine Freundin, deren Vater jüdisch war. Mit ihr konnte ich über alles reden und das war der Ausgleich. Doch man darf nicht vergessen, dass die Unfreiheit, die ich erlebt habe, auf ein ganzes Leben gesehen, eine relativ kurze, prägende Zeit war - zwölf Jahre.
Mein Vater kam nach seiner Verhaftung am 5. April 1943 in verschiedene Gefängnisse. Die Kontakte zur Widerstandsgruppe rissen mit seiner Gefangennahme nicht ab. Er bekam und schickte laufend Nachrichten in Form von Kassibern - so nannte man die versteckten, geheimen Botschaften. Viele davon brachte ich, als Siebzehnjährige, durch meine Besuche aus dem Gefängnis heraus. An die Angst vor Verfolgung, vor der Gestapo, erinnere ich mich bis heute sehr deutlich. Ich wusste immer: War in einem Buch vorn der Name Dohnanyi unterstrichen, so enthielt es eine verschlüsselte Nachricht. Auf jeder zweiten Seite war ein kleiner Punkt unter einem Buchstaben, so setzte sich die Botschaft zusammen. Mein Vater hatte zudem in einen Pappbecher einen doppelten Boden gelegt und darauf eine Kerze gesetzt, um in dem Zwischenraum ganz kleine, fein geschriebene Papiere zu verstecken. Diese Kerze mit dem Becher ist heute in Sachsenhausen ausgestellt. Dort wurde mein Vater am 9. April 1945 nach einem kurzen standgerichtlichen Verfahren ermordet.
Die 1950er-Jahre waren für uns natürlich noch von dem Schicksal der Familie überschattet. Gleichzeitig waren es Jahre, in denen man plötzlich in bis dahin ungekanntem Maße genoss, frei denken und leben zu können. Ich erinnere mich, etwa zwei Jahre nach dem Krieg Carl Zuckmayers "Des Teufels General" gesehen zu haben. Es war eine der ersten Theaterproduktionen und beeindruckte mich wegen der freien Kritik nachhaltig. Es war eine Zeit voller Dynamik und Hoffnung, die jedoch gelegentlich noch die alten Strukturen der vergangenen Nazizeit erkennen ließ. Die Gesellschaft hatte in den Fünfzigerjahren zwei Gesichter: Da waren die, die sich wirklich von der Diktatur befreit fühlten, und daneben diejenigen, die mit wenig Kritik den alten Zeiten gegenüberstanden. Gleichzeitig wurden die Gräuel der Naziverbrechen nicht ausreichend aufgearbeitet.
Man muss Freiheit manchmal auch mit Geduld begegnen: Es gibt Phasen, in denen eine Gesellschaft den Umgang mit Freiheit, mit wiedergewonnener oder neuer Freiheit, erst lernen muss. Abgeschlossen war die Konsolidierung der Nachkriegsgesellschaft in meinen Augen Anfang der 1970er-Jahre. Die Bewegung der 68er hat sicher durch ihr Begehren, die Nazitaten aufzuarbeiten, dazu beigetragen. Diesen Teil der 68er-Forderungen habe ich begrüßt. Das Extreme jedoch, die revolutionären Gedanken, die gegen Ende der Sechzigerjahre immer dominanter wurden, und die Aktivitäten, die daraus entstanden, habe ich abgelehnt. Mit den 68ern ist auch noch einmal besonders deutlich geworden, wie wichtig es ist, die Freiheit des anderen zu respektieren und die Grenzen der eigenen Freiheit anzuerkennen. Das ist den damals in der Studentenbewegung Aktiven nicht gelungen. Ihr Umgang mit Freiheit war oft sehr selbstbezogen. Sie waren aufgrund der Vergangenheit ihrer Eltern so überemotional, dass der Respekt für die Freiheit der Gegenseite mehr und mehr auf der Strecke blieb. Doch auch hier zeigt sich in meinen Augen wieder, dass der Umgang mit Freiheit ein Lernprozess ist. Man sieht es an der jetzigen jungen Generation: Ihre Mitglieder gehen auf Demonstrationen mit der Ruhe und dem Respekt für andere Menschen vor, die vor dreißig Jahren gefehlt haben.
Ich sehe mit Genugtuung, dass heute viele der Jüngeren ihre demokratischen Rechte aktiv wahrnehmen und sich auf verschiedenste Weise für Freiheit einsetzen. Zugleich setzt sich ein Teil der Jüngeren kritisch mit der Einschränkung der eigenen Freiheiten durch die Gesetzgebung zur Inneren Sicherheit auseinander. Ich, die ich totale Unfreiheit erlebt habe, stehe diesen Einschränkungen weniger ablehnend gegenüber. Doch ungeachtet der Wertung dieser Entwicklung ist es wichtig, dass die jüngere Generation ein Bewusstsein dafür hat, welch ein fundamentales Gut die Freiheit ist. Und dass es überhaupt möglich ist, ganz unterschiedliche Meinungen öffentlich zu artikulieren. Ich würde mir wünschen, dass dieses Bewusstsein für Freiheit - trotz all der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die es heute gibt - noch viel mehr junge Menschen ergreift.
Die Freiheit, in einer offenen Demokratie - mit allen sie begleitenden Problemen - zu leben, bewertet meine Generation sicher höher als die nachkommenden Generationen. Dies hat uns damals, nach Kriegsende, bei all den Widrigkeiten und Verlusten, eine Fröhlichkeit gegeben und eine Hoffnung, das Schicksal in die eigenen Hände nehmen zu können. Mein Onkel Dietrich Bonhoeffer hat im Gefängnis die Gedichte "Auf dem Wege zur Freiheit" geschrieben. Ein Vers darin lautet: "Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens - und die Freiheit wird Deinen Geist jauchzend empfangen" - das empfinde ich bis heute als schöne Sichtweise für das Leben.