Gerade hat Tobias sein Abi gemacht. Schon immer wollte er Notarzt werden. Er möchte Leben retten und zur Speerspitze der Medizin gehören, die dem Patienten dann hilft, wenn er es am dringendsten braucht. Doch den Numerus clausus für das Medizinstudium erfüllte er mit seinem 2,1er-Abschluss bei weitem nicht. Tobias ist heute 22, nach dem Schulabschluss war er länger in Australien. Jetzt müsste er immer noch viele Jahre warten, bis er loslegen darf. Soll er so lange ausharren oder doch lieber Mathematik studieren? Trigonometrie und Algebra mochte er schon in der Schule, die Noten haben auch gestimmt. Und: Ein reguläres Arztgehalt ist in noch viel weiterer Ferne als der Studienplatz. Tobias möchte seinen Eltern nicht auf der Tasche liegen, obwohl beide gut verdienen. Aber das Lebensgefühl der Eigenständigkeit zählt für ihn: „14 Wartesemester, sechs Jahre Studium, sechs Jahre Facharzt, das heißt 19 Jahre warten, bis ich endlich was verdiene. Ob sich das rentiert?“ Finanziell sicher nicht. Für den ganz großen Traum aber vielleicht schon.
Drei Viertel der kommunalen Kliniken in Deutschland haben Probleme, geeignete Kandidaten zu finden
Tausende junge Menschen teilen ein ähnliches Schicksal wie Tobias. Zum Wintersemester 2017/2018 bewarben sich 43.184 Anwärter auf 9.176 Studienplätze. Sie alle wollen Medizin studieren, erfüllen aber oft den Numerus clausus nicht. Kein Wunder: Der liegt derzeit bei 1,0 in 14 der 16 Bundesländer. Das heißt für die meisten, wie für Tobias: jahrelang auf einen Studienplatz warten. Und das, obwohl bundesweit viele Stellen für Ärzte nicht besetzt sind. Drei Viertel der kommunalen deutschen Kliniken haben Probleme, geeignete Kandidaten zu finden.
Dieses Bewerbungsverfahren fanden zwei Anwärter unfair und zogen vors Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. Sie bekamen recht: Die Richter hielten die gängigen Regeln in Teilen sogar für verfassungswidrig, da viele Bewerber von vornherein ausgeschlossen seien. Sie würden der freien Wahl der Ausbildungsstätte und des Berufs sowie dem allgemeinen Gleichheitssatz Gleichheit nicht entsprechen. Beides ist im Grundgesetz verankert. Verstößt der NC also gegen die Verfassung? Eine Antwort auf diese fundamentale Frage muss jetzt das Bundesverfassungsgericht geben. Im Oktober starteten die Verhandlungen.
Jeder macht, was er will
Das derzeitige Verfahren hat noch ein Problem: Es ist komplex und uneinheitlich. Für die Zulassungen gilt die sogenannte 20-20-60-Regel: 20 Prozent der Plätze vergibt die Stiftung für Hochschulzulassung und orientiert sich dabei allein an der Abiturnote. Weitere 20 Prozent der Bewerber rücken aus der Warteliste nach. Hier spielt allerdings abermals die Abiturnote eine Rolle, denn bessere Absolventen bekommen den Vorzug. Zudem entscheiden soziale Kriterien: Bewerber mit Kind, Verheiratete oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft Lebende sowie Schwerbehinderte bekommen eher die Zusage für einen wohnortnahen Studienplatz. Den überwiegenden Teil der Plätze, 60 Prozent, vergeben die Hochschulen jedoch in Eigenregie nach unterschiedlichen Kriterien. Einige berücksichtigen praktische Erfahrungen im medizinischen Bereich. Manche vergeben Bonuspunkte für die Abiturnoten einzelner Fächer. Andere fordern einen Studierfähigkeitstest für Medizin, den Test für Medizinische Studiengänge (TMS) oder den Hamburger Naturwissenschaftstest (HAM-Nat), in denen naturwissenschaftliche Kenntnisse und kognitive Fähigkeiten geprüft werden. Wieder andere Universitäten führen Interviews durch. Kurz: Jeder macht, was er will.
Die Abinote ist nicht vergleichbar: „Platt gesagt, ein 1,0er aus Bayern entspricht nicht einem 1,0er aus Bremen“
Der Vorsitzende des Ersten Senats, Richter Ferdinand Kirchhof, fragte zum Verhandlungsstart im Oktober, ob die Abiturnote in einem föderalen Schulsystem überhaupt vergleichbar sei. „Platt gesagt, ein 1,0er aus Bayern entspricht nicht einem 1,0er aus Bremen“, erklärt Fachanwalt Dirk Naumann zu Grünberg, der dem Verfahren als Beobachter beiwohnt. Er meint, dass das Vergabeverfahren ein „zerfasertes Verfahren“ ist, in dem es keine Planbarkeit gibt. „Ich kann als Bewerber nicht abschätzen, ob ich Chancen habe oder nicht“, so der Fachanwalt.
Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. hingegen kritisiert, dass ältere Bewerber, deren Abitur über ein Jahrzehnt zurückliegt, dieselben Chancen haben wie jüngere Bewerber. „Diejenigen, die schon lange aus dem Lernen raus sind, brechen besonders häufig das Studium ab. Deshalb sollte ein 40-Jähriger andere Chancen haben als ein 27-Jähriger“, findet Luca Salhöfer, Bundeskoordinator der Vereinigung. Der Verein macht sich für ein bundesweit einheitliches Verfahren stark – zumindest teilweise. Seinem Vorschlag zufolge soll die Hälfte der Plätze nach einem Kriterienkatalog vergeben werden, der neben der Abiturnote die Wartezeit, die Ergebnisse von Studierfähigkeitstests und berufliche Erfahrungen im medizinischen Sektor bewertet. So könnte möglicherweise auch Studienabbrüchen vorgebeugt werden. Die andere Hälfte der Plätze sollen weiterhin die Hochschulen in einem individuellen Verfahren vergeben. Die Hoheit der einzelnen Universitäten bliebe bestehen.
In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag der Bundesärztekammer. „Wir sehen die starke Fokussierung auf die Abiturnote kritisch“, teilt der Pressesprecher Samir Rabbata mit. Ärzte bräuchten vor allem auch eine soziale Ader, Empathie und Fingerspitzengefühl in der Kommunikation. Die Abiturnote soll deshalb an Gewicht verlieren, indem auch die soziale Kompetenz, soziales Engagement und berufliche Erfahrung einbezogen werden.
Hierzu regte der Präsident der Bundesärztekammer, Ulrich Montgomery, im April 2017 an, bundesweit Assessmentcenter einzurichten, wo die Studienanwärter Tests absolvieren. Das würde bei rund 43.000 Bewerbern jedes Jahr 43 Millionen Euro kosten, so seine Rechnung.
Wie machen es die anderen?
Können wir von anderen Ländern lernen? In Kanada geht das Auswahlverfahren einen anderen Weg. Dort müssen die Studierwilligen zunächst ein Bachelorstudium in einem Fach ihrer Wahl abschließen. Dann erwartet sie ein etwa fünfstündiger Eignungstest. Darin prüfen die Auswahlmanager die Kenntnisse in Biologie, Chemie und Physik sowie die Sprachkompetenz. Mit dem Bachelorabschluss und dem Testergebnis bewerben sich die Anwärter. Die Hochschulen laden dann zu Interviews ein, in denen die Bewerber mit sozialem Engagement und Berufserfahrung punkten können. Generell zeigen Modelle im Ausland zumindest in einem Punkt den Weg: Ein Gymnasialabschluss ist zwar die Voraussetzung fürs Studium, aber der Notendurchschnitt ist allenfalls ein Kriterium unter vielen. Auf die Abschlusszensur als Türöffner für viele Studiengänge wird in keinem Land so viel Wert gelegt wie in Deutschland.
Sollten die Karlsruher Richter den NC in seiner bestehenden 20-20-60-Regel tatsächlich kippen, könnte sich das auch auf andere Studiengänge auswirken, bei denen es mehr Bewerber als Plätze gibt. Dazu zählen Psychologie, Architektur, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Betriebswirtschaftslehre und Jura. „Das wäre denkbar“, sagt zu Naumann zu Grünberg. „Allerdings haben die Richter auch deutlich gemacht, dass die sogenannte Wesentlichkeitstheorie gilt: Nur in der Medizin beträgt die Wartezeit derart rekordhafte sieben Jahre. Es geht um die berufliche Zukunft Tausender Menschen und die Gesundheitsversorgung der Gesellschaft.“ Deshalb darf der Gesetzgeber der Regierung oder der Hochschulverwaltung wesentliche Entscheidungen nicht allein überlassen.
Auf einen Medizinstudienplatz kommen zurzeit fast fünf Anwärter
Es gibt viele Vorschläge, das bestehende System zu verändern. Jedoch werden weitreichende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht von allen Beobachtern für realistisch gehalten. „Alles, was weit über den Numerus clausus hinausgeht – auch das wurde in der Verhandlung deutlich –, wäre sehr viel Aufwand für die Hochschulen“, fasste der „Spiegel“ die Haltung anderer Beobachter zusammen.
Ein Grundproblem kann aber auch das Bundesverfassungsgericht nicht lösen: Auf einen Medizinstudienplatz kommen zurzeit fast fünf Anwärter. „Hier wäre die Politik gefordert“, findet zu Naumann zu Grünberg. Sie müsste die Fakultäten ausbauen. Das Urteil aus Karlsruhe kann lediglich die Verteilung der begehrten Plätze ändern, indem es den Gesetzgeber auffordert, innerhalb einer Frist – üblicherweise drei Jahre – die Regeln zu überarbeiten. „Dann werden andere Glück haben“, betont zu Naumann zu Grünberg. „Vielleicht kann auch ein 2,0er-Abiturient Medizin studieren. Aber ein 3,8er wird es immer noch schwer haben, weil das Gericht schon deutlich gemacht hat, dass die Abiturnote auch weiterhin ein Indiz sein wird.“
Studieren im Ausland ist teuer
Was macht Tobias nun – in Zeiten der Ungewissheit? Viele haben ihm zum Medizinstudium im Ausland geraten. In Breslau, Valencia oder Nikosia kann er auf Englisch studieren und mit einem anerkannten Abschluss nach Deutschland zurückkehren. Doch das kostet. In Breslau fallen rund 6.000 Euro Studiengebühren pro Semester Humanmedizin an, in Nikosia sind es sogar 9.500 Euro. Wer schnell Geld verdienen will, so sagte man ihm, macht besser eine medizinische Berufsausbildung, zum Beispiel zur Pflegekraft. Was ihm keiner gesagt hat: Vielleicht gelten in drei Jahren andere Zulassungsregeln – mit denen auch er ins Studium reinrutschen kann. Wann das Urteil darüber fällt, ist aber noch nicht klar.
Illustration: Bureau Chateau / Jannis Pätzold