Ich hatte mir den Rechthaber nicht ausgesucht. Er war in mein Leben gekommen, weil ich mich in seine Tochter verliebt hatte. Wer liebt, fragt nicht groß nach dem Rest. Zwei Jahre verbrachten wir zusammen, der Rechthaber und ich. Es ist schon lange her, die Tochter wohnte noch bei den Eltern damals. Das erste, was der Rechthaber tat, als ich sie zu Hause besuchte, war, mich nach meiner politischen Einstellung zu befragen. Ich hatte gerade zum ersten Mal gewählt, die Grünen. „So so, ein Linker“, sagte der Rechthaber. „Na ja, kein Wunder, Sie tragen ja auch denselben Nachnamen wie dieser Turnschuhminister. Dann erklären Sie mir doch mal, wie Sie ohne Atomkraft fernsehen wollen.“ Als ich ein bisschen herumstammelte, erklärte mir der Rechthaber, dass eine Welt ohne Atomkraft ganz und gar unmöglich sei. „Es sei denn, Sie wollen leben wie in der DDR.“ So begann es. Ich sah den Rechthaber nun öfter. Er arbeitete in einer Bank und trug einen Schnurrbart. Schnurrbart, das klingt wie ausgedacht, ich weiß. Das klingt nach dem schlimmsten Klischee. Es ist aber so, dass viele Rechthaber Schnurrbart tragen. Der Schnurrbart ist wie ein dickes, mit Filzstift gemaltes Satzzeichen, das alles, was aus dem Mund des Rechthabers kommt, noch stärker betonen soll.
Auf dem Weg zur Tochter des Rechthabers musste ich am Wohnzimmer vorbei, wo er oft auf der Couch saß. Meist las er oder sah fern, und immer, wenn er mich sah, rief er mich herein. Rechthaber müssen ständig reden, sie leben davon. Er verwickelte mich in Gespräche über Vegetarismus („gegen die menschliche Natur“), Ausländer („sind nachweislich krimineller“), die Bundeswehr („Und wer verteidigt uns, wenn Sie verweigern?“), Karl Marx („Anwaltssohn, der nie richtig gearbeitet hat“). Weiter zur Tochter durfte ich erst, wenn ich mir seine Vorträge angehört und etwas wie „stimmt“ oder „So gesehen haben Sie natürlich recht“ gesagt hatte; und weil der Rechthaber wie jeder Rechthaber ein Talent für Überleitungen hatte (von der Politik zum Sport zur Kultur zum Leben), dauerte es oft eine halbe Stunde oder länger. Der Rechthaber war mein Türhüter, wie in Kafkas Erzählung „Vor dem Gesetz“, und oft war ich sehr erschöpft, wenn ich zur Tochter kam, so erschöpft, dass ich sofort einschlief.
Trotzdem fiel es mir schwer, den Rechthaber zu hassen. Zum einen, weil die Konfrontation mit ihm klassischer Diskurs war. Zu allem, was ich dachte, stellte er die Antithese auf – und zwang mich dazu, eine eigene Position zu entwickeln. Denn dumm war der Rechthaber ja nicht: bloß unfähig, von dem Weg abzuweichen, den er sich selbst vorgeschrieben hatte. Zum anderen fand ich auch etwas Rührendes in seinem Versuch, die Kompliziertheit der Welt mit Halbgelesenem, Halbgehörtem und Halbverstandenem zu beantworten. Niemand schreit ja lauter seine Verlorenheit ins Universum heraus als der Rechthaber: weil er sich ständig vergewissern muss, dass er versteht. Ich verstehe, also bin ich, ist sein Mantra, auch wenn nur er sich versteht. Er ist sein eigener Logiker, ein Verbohrter. Einmal waren wir zusammen im Urlaub, der Rechthaber, seine Frau, die Tochter und ich. Südspanien. Dort gingen wir in ein hübsches, kleines Restaurant. Über dem Tresen hing eine Regenbogenflagge, das international bekannte Symbol der Schwulen und Lesben. „Entschuldigung, aber könnten Sie bitte die Flagge abhängen? Ich fühle mich diskriminiert“, sagte der Rechthaber zum Kellner. Der verstand nicht recht. „Ich bin heterosexuell“, sagte der Rechthaber, „und indem Sie mich dazu zwingen, unter einer Schwulenflagge zu essen, schließen Sie mich als Gast aus“. Der Rechthaber grinste etwas unkontrolliert. Die Gewissheit, aller Wahrscheinlichkeit nach der erste Rechthaber der Weltgeschichte zu sein, der in diesem Minderheitenrestaurant auf die Rechte der Mehrheit drängte, erregte ihn. Ich hörte sein Herz pochen.
Die Frau des Rechthabers war sehr still. Partner von Rechthabern sind so. Sie gehen entweder eines Tages für immer Zigaretten holen oder verstummen. „Und wenn ich die deutsche Flagge einfach danebenhänge, wären Sie dann zufrieden?“, fragte der Kellner. Er sprach ganz gut deutsch und war sehr freundlich. Der Rechthaber stockte. Er rang um eine Antwort, aber irgendwie kam nichts Passendes heraus. Es war das erste Mal, dass ich ihn so sah. Grummelnd stocherte er in der „Schwulenpaella“, wie er sie nannte. Draußen, auf der staubigen Straße, nahm ich den Rechthaber in den Arm, zärtlicher noch, als ich je seine Tochter in den Arm genommen hatte. Plötzlich war er ganz still.