Man kann sich vorstellen, wie bedrückend diese Umgebung auf jemanden wirken muss, der eine Vorladung zur Vernehmung von der Berliner Steuerfahndung erhalten hat. Man fühlt sich quasi direkt schuldig, wenn man den Weg hierher durch ein Gebiet geht, das wie die Kulisse eines „Tatort“-Krimis wirkt. Grauer Himmel. Graues Pflaster. Berlin-Tempelhof. Von allen Seiten strömt die Zweifelhaftigkeit auf einen ein. Da sind Lagerhallen, Schuppen, Autohändler mit Barkaufangeboten, offene Mülltüten auf dem Gehsteig, ein zertrümmerter Bürostuhl. Neben der Kleingartenkolonie „Fröhliche Eintracht“ erhebt sich dann links die Festung der Steuergerechtigkeit, eine Art veilchenblaue Burg. Finanzamt für Fahndung und Strafsachen Berlin. Angeblich ist es eines der bestgesicherten Gebäude der Stadt.
Hier arbeitet die Eingreiftruppe, die dem Staat das verlorene Geld zurückholen soll. 124 Fahndungsprüfer, und einer davon ist ein Mann namens Carsten B. Natürlich wäre er auf der Straße nicht erkennbar, denn er trägt so ziemlich das Gegenteil einer Uniform. Geringeltes T-Shirt, Turnschuhe, Goldkette, Zweiwochenbart. Er beteuert, er habe keine Nahkampftechniken erlernt, die ihm helfen könnten. Wenn er da rausgehe und mit seinen Kollegen unangemeldet Betriebe und Privatwohnungen durchsuche, brauche er keine Gewalt. Ein Steuerfahnder müsse gut kommunizieren können. Er sei „bewaffnet mit Kugelschreiber und Büroklammer“, und mehr nicht. Den Standort in dieser eigenartigen Gegend habe man nicht aus strategischen Gründen gewählt, nicht um die Menschen einzuschüchtern, die zu Vernehmungen hierherkommen müssen. Ein reines Platzproblem sei das gewesen, weil der alte Dienstsitz für die Beweismittel – Tonnen und Kisten und Aktenkilometer von Unterlagen – zu klein geworden sei. Und auch jetzt stehen auf dem Boden seines Büros wieder gestapelte Umzugskisten mit Dokumenten, und, so versichert er, die Schränke hinter ihm seien ebenfalls voll.
Ob man denn mal reinschauen könne? Es ist sinnlos, den Steuerfahnder Carsten B. so etwas zu fragen. Ihn zu bitten, eine der Kisten oder auch nur ein paar Ordner für den neugierigen Besucher zu öffnen. Ein paar krumme Zahlen herzuzeigen, nur ganz kurz. Den wildesten Fall zu erklären, an dem er gerade arbeitet. So was von sinnlos. Carsten B. ist die Diskretion und Korrektheit in Person. „Ich hab ja mein Steuergeheimnis.“ Den Satz sagt er mehrfach. Meistens beginnen seine Ermittlungen mit einem Hinweis. Anonyme Tippgeber melden sich. Betrogene Ehemänner und Ehefrauen, verbitterte Angestellte, Nachbarn und Konkurrenten. Sie wollen Rache, manchmal auch Gerechtigkeit. Immer öfter kauft der Staat aber auch CDs von Informanten und findet so heraus, wer womöglich Geld in Liechtenstein oder der Schweiz versteckt hat, ohne dafür Steuern zu zahlen. Regelmäßig stoßen Kollegen von Carsten B. bei routinemäßigen Betriebsprüfungen auf merkwürdige Buchungen. Zum Beispiel, wenn der Besitzer einer Imbissbude 10.000 Würstchen eingekauft, aber gegenüber dem Finanzamt nur 2.000 verkaufte Hotdogs angegeben hat. Und manchmal kommt sogar ein Computerprogramm darauf, dass es in den Zahlen und Abrechnungen einer Firma oder eines Selbstständigen Zahlenfolgen gibt, die im richtigen Leben sehr unwahrscheinlich sind, nicht aber in gefälschten Bilanzen.
Betrogene Partner wollen Rache
„Meistens finden wir dann was“, sagt Carsten B. „Aber ich muss immer in beide Richtungen ermitteln und auch entlastende Beweise suchen.“ Er ist nicht auf irgendein Fachgebiet oder Gewerbe spezialisiert. Carsten B. macht Umsatzsteuerbetrug, Einkommenssteuerbetrug, Körperschaftssteuerbetrug, Vermögenssteuerbetrug – das volle Programm. Und zurzeit kümmert er sich auch um Kindergeld, weil das komischerweise in Deutschland als Steuerleistung gilt. 530,6 Milliarden Euro hat der Staat im Jahr 2010 von seinen Bürgern und Unternehmen bekommen. Diese Zahl ist bekannt. Wie viel ihm Betrüger pro Jahr vorenthalten, weiß dagegen keiner so genau. 30 Milliarden Euro schätzt die Steuergewerkschaft. Stimmt nicht, sagt das Finanzministerium. Und auch die meisten Fachleute sind sich einig, dass man Geld, das versteckt wird, weder sehen noch seriös berechnen kann. Ganz anders sieht es mit den Erfolgen der Steuerfahnder aus. Im Jahr 2009 (dem letzten Berichtsjahr) haben sie bundesweit knapp 1,6 Milliarden Euro zurückgeholt. Rund 30 Millionen Euro Geldstrafen und 1.794 Jahre Gefängnis wurden aufgrund ihrer Ermittlungen insgesamt verhängt. Für den Staat ist einer wie Carsten B. auf jeden Fall ein gutes Geschäft.
Wie viel Geld er persönlich dem Staat schon eingebracht hat, weiß er nicht. Das hat er sich nicht notiert. Das würde er wahrscheinlich auch gar nicht sagen, weil die Höhe der Betrugssummen offiziell gar keine Rolle spielt. Ebenso wenig wie die Prominenz der Verdächtigen. Eine kleine Firma zu stoppen, die Scheinrechnungen ausstellt, ist ihm genauso recht, wie Prominente zu überführen. „Unabhängig von der Größe der Hinterziehung existiert ein Verfolgungszwang“, sagt Carsten B. Was ihm dagegen etwas mehr Freude zu bereiten scheint: schwierige Fälle, komplizierte Fälle, Rätsel, die er knacken muss. Wenn man ihn reden hört, hat man den Eindruck, der größte Teil der Arbeit eines Steuerfahnders ist Kombinatorik, Logik, reine Mathematik. Die Ermittlungen können Jahre dauern.
Er geht immer respektvoll mit Verdächtigen um
Und dann geht es manchmal auch ganz schnell. Carsten B. rückt mit seinen Kollegen aus. Manchmal Polizei dabei, manchmal nicht. Klingelt Menschen aus dem Schlaf, belehrt sie rechtlich, durchsucht Wohnungen und Büros, stellt Aufzeichnungen, Schmierzettel, Listen, Belege sicher. Hat Handschuhe mitgenommen, falls es mal dreckig wird. Er bittet die Verdächtigen zu kooperieren, den Schließfachschlüssel rauszurücken, die Firma aufzusperren, verhört sie, lässt sie erklären, warum sie keine Steuererklärung abgegeben haben, warum sie eine abgegeben haben und sie so fehlerhaft ist, wie das mit ihrem extrem niedrigen Gewinn denn um alles in der Welt plausibel sein kann. Er sagt, er gehe immer sehr respektvoll mit den Verdächtigen um. „Man darf nicht vergessen, da ist zwar ein Steuerpflichtiger. Da ist aber immer auch ein Mensch.“
Gerechtigkeit, das ist für ihn ein zu schwammiger Begriff. „Gerechtigkeit wird man nicht herstellen können“, sagt er. Um die Gerechtigkeit sollen sich die Philosophen und Politiker kümmern, nicht die Steuerfahnder. Die wirtschaftlichen Vorteile einzudämmen, die ein Steuerhinterzieher gegenüber einem Steuerzahler hat. So könnte man das Ziel seiner Arbeit vielleicht eher formulieren. Carsten B. macht diesen Job seit zwanzig Jahren. Er war bei reichen Leuten, armen Leuten, verrückten Leuten daheim. Er kennt ihre Finanzen. Er kennt ihr Leben. Er sagt: „Es ist eine Gauß’sche Normalverteilung“ – den typischen Täter gibt es nicht. Du, ich, wir alle: Jeder kann ein Betrüger sein. Und da draußen lauert Carsten B.