Michael Rediske hat die deutsche Sektion der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) 1994 mitgegründet und ist seitdem ihr Vorstandssprecher. ROG setzt sich weltweit für die Pressefreiheit ein und engagiert sich für Journalisten, die aus politischen Gründen verfolgt werden. Seine persönliche Motivation zum Einsatz für die Pressefreiheit geht zurück auf seine Erfahrungen in Lateinamerika Anfang der 1980er-Jahre. Dort erlebte er, wie Regierungen verschiedenster politischer Couleur die Pressefreiheit einschränkten. Aber wie steht es eigentlich um die Pressefreiheit in Deutschland?

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In manchen Ländern sieht Reporter ohne Grenzen Schwarz für die Pressefreiheit. Zur offiziellen Rangliste

In manchen Ländern sieht Reporter ohne Grenzen Schwarz für die Pressefreiheit. Zur offiziellen Rangliste

fluter: Seit 20 Jahren prangert Reporter ohne Grenzen an, dass Journalisten in vielen Ländern bedroht, verfolgt, inhaftiert und auch ermordet werden. Deutschland erscheint dagegen als eine Insel der Seligen. Ist da was dran?

Michael Rediske: Wie auch schon in unserem Namen zum Ausdruck kommt, müssen wir uns um die ganze Welt kümmern. Und im Vergleich zu anderen Weltregionen wirken Deutschland, Nord- und Mitteleuropa tatsächlich wie eine Insel der Seligen. Bestimmte Länder müssen ja auch die Standards setzen, damit wir fordern können, dass es in China, Aserbaidschan oder Russland mal anders wird. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir hier diese Standards einhalten. Wenn wir uns verschlechtern, dann haben wir auch wenig Legitimation, Pressefreiheit von anderen zu fordern.

Deutschland liegt auf der aktuellen ROG-Rangliste der Pressefreiheit auf Platz zwölf unter 180 Staaten. Das ist oberes Mittelfeld in Europa. Welche Probleme sieht ROG denn in Deutschland?

Die Mängel betreffen insbesondere den Informantenschutz, auch Quellenschutz genannt, sowie den Zugang zu staatlichen Informationen. Da sind die Kollegen in skandinavischen Ländern besser abgesichert.

Worin bestehen konkret die Mängel?

2014 sind mehrere Fälle bekannt geworden, in denen Journalisten von Strafverfolgungsbehörden oder von Geheimdiensten ausspioniert wurden, um ihre Quellen zu enttarnen. Einen besonders heftigen Fall gab es in Hamburg, wo eine in der linken Szene eingesetzte verdeckte Ermittlerin der Kriminalpolizei jahrelang bei einem freien Radiosender mitgearbeitet hat. Zwar kommt es seit dem wegweisenden „Cicero“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2007 nur noch selten zu Durchsuchungen von Redaktionen und Beschlagnahmungen von Datenträgern. Doch jeder derartige Eingriff ist einer zu viel.

Warum gab es die Durchsuchungen im Fall des Magazins „Cicero“?

Das Blatt hatte aus einem geheimen Terrorbericht des Bundeskriminalamts zitiert. Man wollte die undichte Stelle finden, die den Bericht herausgegeben hatte. Später erklärten die Karlsruher Richter solche Eingriffe für verfassungswidrig und stärkten damit die Pressefreiheit. Wir wissen aber, dass Behörden und Unternehmen, wenn Enthüllungsgeschichten erscheinen, intensiv nach Whistleblowern, nach undichten Stellen, suchen, um diese Informanten zu entlassen oder zu bestrafen. Wir fordern ein Gesetz, das Whistleblowern Schutz bietet.

Warum ist das so wichtig?

Whistleblower sind unverzichtbar, damit Medien Fehlentwicklungen wie Korruption und Misswirtschaft öffentlich machen können. Hierzulande sind nur Beamte vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen geschützt. Sie dürfen sich bei Korruptionsverdacht etwa direkt an die Staatsanwaltschaft wenden. Für andere Arbeitnehmer gilt dies jedoch nicht. Sie müssen immer mit einer Kündigung rechnen, wenn sie interne Missstände publik machen wollen. Ein umfassender Whistleblower-Schutz in Deutschland steht also immer noch aus.

Die Große Koalition beabsichtigt, nach den Terroranschlägen von Paris zu Beginn des Jahres die Vorratsdatenspeicherung einzuführen. Ist die geplante anlasslose Archivierung von Internet- und Telefonverbindungsdaten zu Fahndungszwecken auch eine Bedrohung für journalistische Quellen?

Das ist sie allerdings! ROG fordert deshalb, Verbindungsdaten allenfalls gezielt und von Richtern kontrolliert aus konkretem Anlass zu speichern. Außerdem: Wegen der Unvereinbarkeit mit den Grundrechten haben sowohl das Bundesverfassungsgericht 2010 als auch der Europäische Gerichtshof 2014 eine Vorratsdatenspeicherung in der jeweils geplanten Form abgelehnt.

Sie haben auch den Zugang zu staatlichen Informationen angesprochen – wo liegen da Defizite?

Die Auskunftsrechte von Journalisten gegenüber Bundesbehörden sind aus unserer Sicht unzureichend. Journalistenverbände fordern daher ein Bundespresseauskunftsgesetz. Auch das Informationsfreiheitsgesetz greift nicht voll. Danach haben Bürger und Journalisten in Deutschland seit 2006 ein Recht auf Akteneinsicht bei Bundesbehörden. Viele Behörden behindern jedoch durch Ausnahmeregelungen, langsame Bearbeitung und hohe Gebühren die Ausübung dieses Rechts. Übrigens haben mehrere Bundesländer weiterhin überhaupt keine entsprechenden Regelungen.

Gibt es aus der Sicht von ROG besondere Problemländer in Europa? Spontan würde man da vielleicht an das EU-Land Ungarn mit Platz 65 auf der ROG-Rangliste denken.

Es gibt zunehmend Probleme in Süd- und Südosteuropa. Besonders gravierend sind die Zustände in der Türkei. Da zeigt Präsident Erdoğan sehr offen seine Missachtung für die Pressefreiheit. Es werden Journalisten aus den unterschiedlichsten Gründen kriminalisiert, dort waren zeitweise mehr als 90 Journalisten in Haft. Was Ungarn angeht, ist besonders beklagenswert, dass es die EU letztlich nicht geschafft hat, ihre eigenen Standards dort durchzusetzen. In Rumänien und Bulgarien wiederum sind die Mediensysteme sehr korruptionsanfällig. Ähnliche Probleme haben einige Länder des ehemaligen Jugoslawien.

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Entführt, getötet, verhaftet – drei Worte und 363 Einzelschicksale. Zur Jahresbilanz 2014 von Reporter ohne Grenzen

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Zurück nach Deutschland. In den vergangenen Jahren ist immer wieder von der Printkrise in Zeiten der Digitalisierung die Rede. Insbesondere bei Tageszeitungen – aber nicht nur dort – sind starker ökonomischer Druck und Konzentrationsentwicklungen, also der Zusammenschluss von Unternehmen, zu beobachten. Was bedeutet der Rückgang der Vielfalt für die Pressefreiheit?

Vielfalt ist für Pressefreiheit unverzichtbar. Insofern ist es auch bedenklich, dass es in Deutschland bei den Tageszeitungen immer weniger Vollredaktionen gibt, die alle Teile einer Zeitung selbst herstellen. Und dass in immer mehr Städten und Landkreisen nur noch eine Lokal- oder Regionalzeitung existiert. Dann hat eine Zeitung das Monopol zu entscheiden, ob ein bestimmter Skandal an die Öffentlichkeit kommt oder ob bestimmte Meinungen überhaupt zu Wort kommen. Solche Einschränkungen sehen wir allerdings noch nicht bei den überregionalen Tageszeitungen.

Gilt bei der Pressevielfalt also: Viel hilft viel?

Es ist nicht die Quantität alleine, die zählt. Viele politisch eher leichtgewichtige und nur von Anzeigen abhängige Gratiszeitungen bringen noch keinen Fortschritt an Meinungsvielfalt.

Wenn Vielfalt zurückgeht, können Online-Medien oder Blogs einen Ausgleich schaffen?

Nur begrenzt, denn wenn sie mit ihren Themen nicht in die traditionellen Medien hineinkommen, dann fehlt ihnen die Wahrnehmung durch die breite Öffentlichkeit. Bis auf vereinzelte Ausnahmen wie „Spiegel Online“ haben Online-Medien und Blogs noch Probleme, durchzudringen und wichtig genommen zu werden.

Unter anderem sind es die wirtschaftlichen Interessen von Verlegern und Medienunternehmern, die eine Basis für die Pressefreiheit bilden. Doch können wirtschaftliche Interessen auch zu einer Bedrohung für die Pressefreiheit werden?

Medien, die keinerlei Gewinn machen und vollständig von anderen, meist politischen Interessen ihrer Eigentümer abhängig sind, können kein Vorbild sein. Medien sollten Gewinn machen. Wenn aber Gewinnmaximierung das Ziel ist, wird nur noch an der Qualität, am Journalismus gespart. Das ist kein guter Ansatz. Gerade junge Leser und Nutzer verlangen ansprechende, gut aufgemachte Inhalte.

Neben privatwirtschaftlichen Medien, die Werbung machen müssen, gibt es auch Alternativen: den öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder Zeitungen, die von einer Genossenschaft finanziert werden – wie etwa die „taz“. Jüngere Beispiele sind Crowdfunding oder stiftungsfinanzierter Journalismus. Sind das automatisch die Guten?

Sie müssen es nicht sein. Es kommt immer darauf an, wer das wie finanziert und wie frei die Journalisten in ihrer Arbeit sind. Doch ein Stiftungsmodell ist mir persönlich allemal lieber, als wenn sich ein Wirtschaftstycoon seine eigene Zeitung hält. Es kommt auf die redaktionelle Unabhängigkeit an.

Kann aus Ihrer Sicht Pressefreiheit eigentlich auch missbraucht werden?

Fälle von Missbrauch gibt es immer wieder, nicht immer ist aber gleich die Pressefreiheit als solche in Gefahr. Neben einem inneren Kompass sind allerdings auch Regeln wichtig: Wer wie Journalisten andere und ihr Handeln beurteilt, der sollte auch selbst eine ethische Grundlage für seine eigene Arbeit haben.

Und die wäre?

In Deutschland gibt es seit den 1970er-Jahren den Pressekodex. Das ist eine Regelsammlung, die der Deutsche Presserat vorgelegt hat – und die die Verleger und Journalisten durch ihre Verbände abgesegnet haben. In diesen Regeln geht es um Dinge wie Sorgfalt, Trennung von Redaktion und Werbung, Persönlichkeitsrechte, Menschenwürde. Durch Beschwerden beim Deutschen Presserat kann man feststellen lassen, ob die Pressefreiheit missbraucht worden ist. Dann rügt der Presserat das betreffende Medium, das die Rüge auch veröffentlichen muss. Besonders wichtig finde ich aber die Selbstkritik und die Debatte unter den Kollegen selbst. Wie viel Neugier darf sein? Wo hat der Schutz der Privatsphäre Vorrang? Darf Schnelligkeit vor Gründlichkeit gehen?

Wie erklären Sie jungen Leuten, was Pressefreiheit bedeutet?

Wer als jüngerer oder auch älterer Mensch politisch mitentscheiden will, der muss sich darüber klar sein, dass er oder sie dafür möglichst vielfältige Informationen, also ein breites Medienangebot braucht. Informationen muss man sich auch aktiv holen – und darf nicht erwarten, dass man immer bedient wird, zum Beispiel nur von seinen Facebook-Freunden.

Jüngst gab es eine Debatte über die sogenannte Facebook-Filterblase, nämlich darüber, dass Facebook dem User nur eine beschränkte Sicht von politischen Debatten liefern würde. Der Algorithmus soll Nachrichtentexte aussortieren, die dem Weltbild des Users nicht entsprechen. Wie schätzen Sie das ein?

Eigentlich ist der Vertriebskanal völlig egal. Facebook kann theoretisch genauso gut sein wie andere Kanäle. Doch der Algorithmus wählt eben nur nach den bisherigen Lesepräferenzen und Vorlieben des Nutzers aus. Man wird nicht mehr mit unerwarteten Meinungen und Positionen konfrontiert. Ich fürchte, dass es auch nicht helfen wird, dass „Spiegel Online“ und die „Bild“-Zeitung demnächst mit Facebook kooperieren und dort direkt Artikel platzieren. Denn auch da wird der Algorithmus nach ähnlichen Kriterien die Artikel auswählen.

Michael Rediske, Jahrgang 1953, hat Reporter ohne Grenzen (ROG) in Deutschland 1994 mitgegründet und ist seitdem Vorstandssprecher. Der studierte Verwaltungswissenschaftler arbeitete seit 1987 als Redakteur für die „taz“ und war dort von 1996 bis 1999 Chefredakteur. Von 2001 bis 2002 war er stellvertretender Chefredakteur von AFP Deutschland. Seit Herbst 2004 ist er Geschäftsführer des Journalistenverbandes Berlin-Brandenburg. 

Hans-Hermann Kotte hat mal für eine Zeitung gearbeitet, bei der einer der Chefs vom „Meinungskorridor“ sprach, als es darum ging, dass bestimmte Ansichten nicht so gefragt seien. Das war 1998 und es ging um die Kritik von Kollegen am Kosovo-Krieg. Das Wortungetüm „Meinungskorridor“ hat sich ihm eingeprägt, ist ihm im Arbeitsalltag aber seither nicht wiederbegegnet.