Es wird derzeit viel über Russland geredet und berichtet – und das oft von Nicht-Russen. Aber die besten Russlandkenner sind wohl immer noch die Russen selbst. Wir möchten mehr darüber wissen, wie sie ihr Land sehen und haben daher russische Journalistenkollegen um kurze Statements gebeten. Manche betreffen ganz normale Alltagsphänomene, andere gehen auch die aktuelle Krise in der Ukraine ein. Die erste Folge:
Christina Berlizova aus Nowosibirsk
Russland ist genauso umfassend und weit, wie es die russische Seele ist. Ich spreche von Extremen und Distanzen, die sich ein Ausländer kaum vorstellen kann. Ich lebe in der Mitte des Landes – von Westen nach Osten gesehen –, in Nowosibirsk. Das ist die wichtigste Stadt Sibiriens. Von dort fliegt man fast genauso lang nach Moskau wie nach Wladiwostok. Rund vier beziehungsweise sechs Stunden braucht man für die rund 3.000 respektive knapp 4.000 Kilometer Luftlinie. In meiner Stadt leben fast 1,5 Millionen Menschen. Nowosibirsk ist die drittgrößte Stadt in Russland. Ich wohne in einem sogenannten Schlafviertel am Rande der Stadt. Jeden Tag fahre ich mehr als eine Stunde mit Bahn und Bus, um ins Stadtzentrum zu kommen. Zur Arbeit laufe ich dann noch mal 15 Minuten. Man gewöhnt sich an alles. Deswegen fallen einem diese kleinen Unannehmlichkeiten im Alltag kaum noch auf. Auf meinem langen Weg lese ich Bücher oder höre Musik und versinke in meiner eigenen Welt. Die Zeit, in der ich unterwegs bin, verfliegt regelrecht. Leider sind die Straßen bei uns immer verstopft, auch an den Wochenenden, wenn die Familien auf dem Weg zu den Shopping Malls sind. Das Einkaufen ist bei uns für viele die Hauptbeschäftigung. Deswegen beneide ich die Deutschen ein wenig um ihre Sonntage, wenn alle Geschäfte geschlossen sind. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Mir gefällt es, in Nowosibirsk zu leben, im Herzen des Landes. Ich bin froh, in Sibirien geboren worden zu sein. Das raue Klima bei uns formt den Charakter, wie man bei uns sagt. Im Sommer sind es fast 30 Grad, im Winter kann es durchaus kälter als minus 20 Grad werden. Wir sind es also gewohnt, mit Extremen zu leben.
Kristina Berlizova lebt in Nowosibirsk und ist 24 Jahre alt. Sie ist Sportjournalistin, reist gern und begeistert sich für andere Sprachen. Einer der schönsten Momente in ihrem Leben, sagt sie, sei die Eröffnungszeremonie der Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 gewesen.
Michaeil Birjurkow aus St. Petersburg
Schwarzes Loch. So nennt man in Russland die Episode im Leben, wenn man Schule und Universität hinter sich lässt, aber noch keine Arbeit gefunden hat. Jedes Jahr verschluckt dieses schwarze Loch viele junge Leute, ähnlich wie in dem Film „Interstellar“. Die Uni-Abgänger haben Intellekt, Wissen, sie haben bestimmte Fähigkeiten und ein Diplom. Aber sie haben in den meisten Fällen keine einflussreichen Beziehungen, die ihnen helfen, eine Arbeit zu finden. Meistens sind es nur die Glückspilze, die Kinder der Reichen, die eine Arbeit ergattern. Die übrigen: eine verlorene Generation, die ums Überleben kämpfen muss. In der Kindheit hörst du immer und überall denselben Satz: Es ist wichtig, dass du eine universitäre Ausbildung machst. Aber mit jedem Jahr verstehst du besser, dass du deine Zeit umsonst verplemperst. Nützliche Kontakte sind einfach viel wichtiger als ein Diplom. Der Staat seufzt erleichtert auf, sobald du den Hut des Studienabgängers in die Luft wirfst. Denn dann muss er sich nicht mehr um dich kümmern und Geld für dein Stipendium ausgeben. Glückwunsch. Du bist: „Another Brick in the Wall“.
Michail Birjukow ist 22 Jahre alt und lebt in St. Petersburg, wo er sich als freier Journalist u.a. mit Fußball und dessen Fankultur beschäftigt. Er reist gerne, mag pünktliche Menschen, verabscheut russischen Rap und Lügen.
Organisiert und übersetzt hat die Statements der russischen Journalisten unser Autor Ingo Petz, der in Osteuropa über ein großes Netzwerk verfügt, weil er selber oft von dort berichtet.