Es wird derzeit viel über Russland geredet und berichtet – und das oft von Nicht-Russen. Aber die besten Russlandkenner sind wohl immer noch die Russen selbst. Wir möchten mehr darüber wissen, wie sie ihr Land sehen und haben daher russische Journalistenkollegen um kurze Statements gebeten. Manche betreffen ganz normale Alltagsphänomene, andere gehen auch die aktuelle Krise in der Ukraine ein. Die dritte Folge:

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cms-image-000045325.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Lada Sardak aus Perm

Vor vielen, vielen Jahren habe ich mir die Nase gebrochen. Durch einen Schlag auf die Nase wurde die Scheidewand verschoben, so dass mir das Atmen seither schwerfiel. Zwölf Jahre nach dieser Verletzung beschloss ich, mich operieren zu lassen, um das zu korrigieren. Ich konnte zwischen zwei Möglichkeiten wählen: das private Klinikum, wo man für eine OP mindestens 650 Euro zahlen muss, oder das staatliche Krankenhaus, wo die OP kostenlos ist. Ich wollte keine zwei Monatsgehälter für meine Nase ausgeben, deswegen entschied ich mich für die städtische Poliklinik und ging meine Mission an.

Ich versuche also, einen Termin beim HNO-Arzt zu machen. Der frühestmögliche ist in zwei Wochen, den nehme ich wahr. Ich setze mich ins Wartezimmer, ich werde zu einigen Tests geschickt, ich mache die Analysen. Dann hole ich mir einen Termin für einen Therapeuten, der mir die Wartezeit bis zur OP mit seinen Wunderkräften erträglicher gestalten soll, und stelle fest, dass der Termin wiederum erst in zwei Wochen ist. Ich gehe zum Therapeuten, bezahle 700 Rubel, bekomme noch einen Wisch mit dem Befund und besorge mir wieder einen Termin beim HNO-Arzt, von dem ich die Überweisung ins Krankenhaus brauche (die gesetzlich garantierte kostenlose Gesundheitsversorgung in Russland bröckelt, und es wird auch in staatlichen Gesundheitseinrichtungen neben der freien Behandlung eine kostenpflichtige mit bestimmten Privilegien angeboten, Anm. d. Red.). Wieder soll ich zwei Wochen warten. Ich spucke auf all diese Widrigkeiten und gehe einfach so zum HNO-Arzt. Ich gehe direkt in das Zimmer des Arztes, der mir eine Überweisung für das Krankenhaus ausstellt. 

Endlich bin ich im Krankenhaus. Ich muss meine Kleidung in einem Schließfach unterbringen und den Schlüssel abgeben. Das geschieht, damit die Patienten nicht aus dem Krankenhaus flüchten. Im Zimmer liegen neben mir noch vier andere Frauen, die alle ganz okay sind. Am nächsten Morgen kommt der Arzt und begleitet mich in den OP-Saal. In meinem Zimmer wache ich aus der Narkose auf   –  von dem Stich einer Spritze, die mir ein Pfleger gibt. Ich schlafe wieder ein und wache erst am Abend auf. Die Tage im Krankenhaus ähneln in keiner Weise irgendwelchen TV-Serien: Es gibt keine sexy Ärzte, keine stilvollen Morgenmäntel und keine aufmerksamen Schwestern. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht mal, wer der für mich zuständige Arzt ist. Zweimal am Tag gehen alle zur Untersuchung – und zusätzlich zweimal, um irgendwelche Spritzen zu bekommen. Menschen mit bandagierten Gesichtern müssen sich nicht anstellen. Anfangs habe ich mich noch über solche Privilegien gefreut, aber an einem Morgen bandagierte man mein Gesicht versehentlich mit einem alten, vereiterten Verband. Und das, obwohl dies kein Ort war, an dem Stress und Eile herrschten.

Was soll ich sagen? Letzten Endes verheilte meine Nase. Ich kann tatsächlich leichter atmen. Als man mich entlassen hat, bekam ich von der Schwester eine Quittung, auf der folgende Summe stand: 14.560 Rubel, rund 230 Euro. Die bekam ich, damit ich mich bis in alle Ewigkeit daran erinnern kann, wie viel Geld der Staat für meine Nase ausgeben musste.

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cms-image-000045329.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Lada Sardak ist 22 Jahre alt. Sie lebt in Perm, einer großen Stadt im Vorland des Ural. Sie arbeitet in einem Internetmarketing-Unternehmen und schreibt Artikel für verschiedene Zeitschriften. Sie liebt das Reisen und Menschen mit Humor. Was sie nicht ausstehen kann: Walnüsse, kaltes Wetter.










 

Ainur Zinnatullin aus Kasan

Ich bin 24 Jahre alt. Ich bin Journalist. Jeden Tag sende ich im Fernsehen das, worüber die Leute schon viel früher im Internet lesen. Das ist die Besonderheit des Fernsehjournalismus. Eine Besonderheit, wegen der man uns als Faulpelze ansieht. An meine tatarische Muttersprache kann ich mich schon fast nicht mehr erinnern. Vor fünf Jahren, das muss ich gestehen, war ich noch notorisch russophob – aber das ist lange her.

Ich unterscheide mich sehr von meinem Bruder. Wenn von einer möglichen Mobilisierung im Zuge des Krieges mit der Ukraine die Rede ist, fragt der einsatzbereit, wohin es geht. Ich aber beginne, in Gedanken meine Koffer zu packen, um der Mobilisierung zu entgehen. Es ist nicht so, dass ich mein Vaterland nicht liebe, ich liebe es. Aber die Liebe wird leider nicht erwidert. 

Im vergangenen halben Jahr hat sich mein Gehalt fast halbiert. Zur Zeit verdiene ich als TV-Journalist, wenn man den sich ständig ändernden Umrechnungskurs berücksichtigt, rund 400 US-Dollar. Früher reichte dieses Geld in meiner Familie für 20 Tage. Jetzt nur noch für zehn. Wie es weitergeht, weiß ich nicht. In einem halben Monat bekommen meine Frau und ich ein Kind. Wir haben schon einen Namen ausgesucht. Aus dem Arabischen übersetzt bedeutet er: Geheimnis. Dieses Wort charakterisiert sehr genau unsere Zukunft.

Jede Information, die ich erhalte, überprüfe ich mit Hilfe von zwei, drei Quellen. Jeden Tag höre ich den Radiosender „Silberner Regen“ – meiner Ansicht nach ist das eine der wenigen objektiven und alternativen Informationsquellen in Russland. Ich schaue auch den TV-Sender „Doschd“. Die Nachrichten in den staatlichen Medien schaue ich prinzipiell nicht.

Im Moment widme ich meine Zeit meiner Weiterbildung – ich lese russische und internationale Literatur, lerne Englisch und besuche Seminare in Russland und im Ausland. Vor kurzem habe ich mich um die Teilnahme an einem Seminar beworben, das sich mit der Wirtschaft in Spanien beschäftigt. Bildung, davon bin ich überzeugt, ist das Einzige im Leben, das man ernsthaft betreiben muss. Leute, die etwas wissen, sind das Licht auf dieser Welt. Unwissenheit aber führt nur in die Sackgasse.

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cms-image-000045330.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Ainur Zinnatullin lebt in Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan in der Russischen Föderation. Er glaubt an eine Welt ohne Grenzen. Wenn er im Haushalt etwas reparieren soll, stößt er allerdings immer schnell an seine eigenen, wie er zugibt.

Organisiert und übersetzt hat die Statements der russischen Journalisten unser Autor Ingo Petz, der in Osteuropa über ein großes Netzwerk verfügt, weil er selber oft von dort berichtet.