Vögel zwitschern im Innenhof der Festung von Diyarbakir, in der Ferne wird gehämmert, irgendwo singt ein Arbeiter. Drinnen in dem byzantinischen Bauwerk finden Figens Finger wie von selbst die Ritze im Gemäuer, in der sie früher ihr Brotmesser vor den Wärtern versteckte. „Wir Politischen saßen hier vorne in einer Sammelzelle, die Kriminellen dort im Hinterhaus“, erklärt sie. „Gefoltert wurde man im Keller.“ Einige Monate saß Figen in der Festung ein, dann wurde sie wegen PKK-Mitgliedschaft zu zwölfeinhalb Jahren verurteilt und in eine andere Haftanstalt verlegt. 16 Jahre alt war sie, als sie hier ankam – 26 Jahre, als sie aus dem Gefängnis herauskam. „Kinder des Krieges“ nennt man ihre Generation in Diyarbakir: Wer in den letzten drei Jahrzehnten in dieser Gegend geboren wurde, dessen Leben ist geprägt vom Kurdenkonflikt. Drei Jahre ist es her, dass Figen aus der Haft entlassen wurde. Von der Zelle ist nicht mehr viel zu sehen außer dem Grundriss, den rostigen Fassungen der Neonlampen und dem Plumpsklo in der Ecke. Die Zellenwände sind aus dem historischen Mauerwerk herausgerissen, durch die leeren Bogenfenster strömt die Sonne herein: Die Festung, bis vor Kurzem noch militärisches Sperrgebiet, wird zu einem Kulturzentrum umgebaut. Aus dem Gefängnis soll ein Tagungshaus werden, aus der Militärkommandantur ein Museum, in der Polizeiwache entsteht eine Galerie. 

Am Festungstor in der Basaltmauer, wo früher Militärposten wachten, schlafen ein paar magere Hunde im Schatten. Nur das ferne Dröhnen der Kampfjets, die vom nahen Militärstützpunkt aufsteigen, um Rebellen jenseits der irakischen Grenze zu bombardieren, erinnert daran, dass der Frieden noch immer nicht sicher ist. Figen kommt selten hierher zurück, obwohl das Gelände seinen Schrecken verloren hat. Viel lieber schaut sie in der Altstadt unterhalb der Festung im Euphrat-Tigris-Kulturzentrum vorbei, wo immer ein paar Freunde und Bekannte anzutreffen sind. Im Innenhof des historischen Basaltgebäudes sitzen sie bei einem Glas Tee zusammen, plaudern auf Türkisch oder Kurdisch, lauschen der kurdischen Volksmusik, die aus dem Inneren dringt, und blättern in den kurdischen Zeitungen, die am Eingang ausliegen.

Noch vor zehn Jahren wäre all das unmöglich gewesen. Das letzte kurdische Kulturhaus wurde in den Neunzigerjahren verboten, die Behörden vermuteten darin separatistische Umtriebe. Heute sind zumindest die kommunalen Behörden selbst kurdisch: Seit sieben Jahren regiert die Kurdenpartei im Rathaus von Diyarbakir und fördert Initiativen wie das Kulturzentrum nach Kräften. Diyarbakir – auf Kurdisch: Amed – ist nicht nur das kulturelle Zentrum der türkischen Kurden, sondern auch politisch und spirituell ihre heimliche Hauptstadt. Offiziell ist die Stadt am Tigris zwar nur eine von 81 Provinzhauptstädten in der Türkei; ihre besondere Bedeutung für das Kurdengebiet erkannte aber auch der türkische Staat an, als er im Ausnahmezustand in den Achtziger- und Neunzigerjahren ganz Südostanatolien von dort aus regieren ließ. Durch den Zustrom von Kriegsflüchtlingen aus den Dörfern schwoll Diyarbakir in dieser Zeit von 200 000 Einwohnern auf rund eine Million an. Die Stadt, die rund hundert Kilometer von der syrischen Grenze entfernt auf einer Hochebene liegt, blickt auf eine 5000-jährige Geschichte zurück, in der mehr als zwanzig Zivilisationen aufstiegen und fielen. Das bedeutendste Monument dieser Geschichte ist die Stadtmauer aus schwarzem Basalt, die in einem sechs Kilometer langen Ring die Altstadt umschließt – sie gilt als eine der größten und besterhaltenen Befestigungsanlagen der Welt. 

In den Gassen der Altstadt rangieren bärtige Basarhändler ihre Handkarren, alte Männer in kurdischer Tracht und verschleierte Frauen drängen vorbei. Tee-Jungen hasten mit schwingenden Tabletts voller tulpenförmiger Gläschen zu ihren Kunden, ein Mann schleppt einen Eselsattel auf dem eigenen Rücken zur Reparatur. Die Gestalten aber, die sich aus diesem orientalischen Szenario lösen und durch das Tor des Kulturzentrums eintreten, tragen Jeans und T-Shirts, Turnschuhe oder Sandalen, Baseballkappen oder offenes Haar: Das Kulturzentrum ist fest in jugendlicher Hand, kein Wunder: Diyarbakir ist eine junge Stadt – zwei von drei Einwohnern sind jünger als 25 Jahre. Auch Zelal, die mit ihren 24 Jahren gerade noch zu dieser Altersgruppe zählt, schaut gern im Kulturzentrum vorbei. Zeit für einen Tee hat sie aber selten; meist reicht es nur für ein paar Worte im Stehen, dann muss sie weiter. 

Die grünäugige junge Frau in Jeans und knappem T-Shirt muss nicht nur ihren vierjährigen Sohn versorgen und macht ein Fernstudium der Soziologie; in einer umfunktionierten Wohnung im Neubauviertel Baglar betreibt sie außerdem eine Kooperative, die jungen Frauen hilft, einen Schulabschluss zu machen und sich durch die Lieferung von selbst gemachtem Mittagessen an die Händler des Viertels finanziert. In der Vereinsküche sind die Vorbereitungen schon in vollem Gange, als Zelal hereinkommt. Zwei junge Frauen namens Meral und Erdem kneten Hackfleisch zu Köftebällchen und würfeln Gemüse für den Spieß. „Es gibt einen riesigen Bildungshunger hier“,erzählt Zelal. Wie Meral und Erdem stammen Zehntausende junge Leute in Diyarbakir aus Dörfern, die in den Kriegsjahren von der PKK überfallen oder von der Armee geräumt und niedergebrannt wurden. Hunderttausende flohen in Todesangst; an Schule dachte damals niemand. Nun muss eine ganze Generation den Anschluss finden und sich den Schulabschluss im Selbststudium erarbeiten. Weil viele noch nie auf einer Schulbank gesessen haben, hilft Zelals Kooperative mit kostenlosen Kursen und Nachhilfestunden. 

Wie Zelal, die jede freie Minute in ihre Kooperative steckt, und wie Figen, die ehrenamtlich in einer Beratungsstelle für Angehörige von Häftlingen arbeitet, engagieren sich Tausende junger Leute in Diyarbakir mit Leidenschaft und Liebe für den Wiederaufbau ihrer zerstörten Gesellschaft. Rund 400 soziale Vereine, Initiativen und Kooperativen wie Frauenhäuser, Hilfswerke für Straßenkinder, Umweltinitiativen, Flüchtlingsvereine, Menschenrechtsverbände, Geschichtswerkstätten, Kulturstiftungen oder Bildungsinitiativen sind in der Stadt entstanden, seit vor vier Jahren der Ausnahmezustand aufgehoben wurde und die Bürger der Stadt ihre Grundrechte zurückerhielten – oder vielmehr: erstmals erhielten, denn der Notstand galt seit 1978. „Wir haben in unserem Leben die Erfahrung gemacht, dass der Staat nichts für uns tut“, sagt die 28-jährige Yasemin und streicht ihren lila Rock glatt. „Daraus haben wir die Lehre gezogen, dass wir es selbst machen müssen.“ Die elegante Akademikerin kommt nach ihrem Dienst als Schulpsychologin täglich zu dem städtischen Frauenzentrum Kardelen, um Mädchen und Frauen ehrenamtlich zu beraten. Aus dem Nebenzimmer dringt das Lachen junger Frauen, die für einen Handarbeitskurs bei Kardelen erstmals im Leben allein aus dem Haus dürfen, weil ihre Familien den kurdischen Kursleiterinnen vertrauen. Dass sie nach ihrem Studium in Ankara im Westen der Türkei hätte bleiben können, um Geld zu verdienen und ein leichteres Leben zu leben – diese Frage habe sich ihr nie gestellt, sagt Yasemin. „Wir haben studiert, um zurückzukommen und unseren Leuten zu helfen“, sagt auch ihre Freundin Evin, eine Soziologin.„Die Generationen vor uns gingen weg, wenn sie konnten. Aber für uns ist das anders. Wir können etwas verändern, diese Verantwortung fühlen wir.“ Hoffnung und Verzweiflung liegen in Diyarbakir nah beisammen. Im „Kaffeehaus der Jugend“, nur ein paar Gassen vom Euphrat-Tigris-Kulturhaus entfernt im Altstadtviertel Melikahmet, ist die Hoffnung schon länger nicht mehr eingekehrt. Drei nackte Glühbirnen baumeln in dem kahlen Raum und werfen ein fahles Licht auf die unrasierten Gesichter der jungen Männer, die an den Blechtischen sitzen, lustlos Backgammon spielen oder gar nichts tun. Tagein, tagaus sitzen sie hier.

„Was sollten wir denn auch sonst tun?“, fragt der 21-jährige Ahmet. „In Diyarbakir gibt es keine Fabrik, keine Arbeitsplätze, keine Chance für uns.“ Nicht einmal auswandern könnten sie, sagt sein Tischnachbar bitter. „In Istanbul bekomme ich als Kurde keine Arbeit. Und nach Deutschland werden wir schon lange nicht mehr reingelassen.“ Die Arbeitslosenquote in der Stadt wird auf siebzig Prozent geschätzt. Die jungen Männer im Kaffeehaus der Jugend stammen fast alle aus dem Dorf Citlibahce bei Hazro, nordöstlich von Diyarbakir. Weite Teile von Citlibahce wurden 1993 von der türkischen Armee niedergebrannt, um PKK-Rebellen die Deckung zu nehmen. Entwurzelt und arbeitslos hocken die Dörfler seither in den Armenvierteln von Diyarbakir – und das schon in der zweiten Generation. Ahmet und seine Freunde können sich noch gut an ihr Dorf erinnern und halten in der Stadt zusammen, als wären sie noch dort. Eine Rückkehr ins Dorf, wie einige ihrer Eltern sie inzwischen gewagt haben, kommt für sie nicht in Frage. „Was sollen wir da?“, fragt einer durch den Rauch seiner Zigarette. 

„Da ist man den ganzen Winter eingeschneit und hat nicht mal ein Kaffeehaus.“ Die Wut kocht im Kaffeehaus der Jugend genauso schnell hoch wie das Wasser für den Tee, das ständig bereitsteht. „Wir haben keine Zukunft in diesem Land, wir haben überhaupt keine Chance“, schreit ein bärtiger 26 Jähriger. Nur ein Vorgeschmack waren nach seinen Worten die Jugendunruhen, die Diyarbakir im Frühjahr erschütterten. Sieben Kinder und Jugendliche wurden damals bei Straßenkämpfen mit der Polizei getötet. Hunderte Jugendliche wurden festgenommen, darunter zwei der jungen Männer in der Kaffeehausrunde – sie heißen beide Mehmet. Ihre Gerichtsverfahren dauern noch an; die Staatsanwaltschaft fordert zehn bis 15 Jahre, weil sie in der Teilnahme an den Demonstrationen eine Unterstützung der PKK sieht. „Wir haben nichts mehr zu verlieren“, meint ein Junge in der Runde. „Wenn sie uns rufen, dann gehen wir in die Berge“, sagt er – er meint die Rebellen, die aus Kaffeehäusern wie diesem immer neue Kämpfer für ihre Guerillatruppen rekrutieren können. 

So untätig und frustriert die Jungs im Kaffeehaus der Jugend herumhängen, so energiegeladen und optimistisch eilt der 30-jährige Ercan durch Diyarbakir, von einem Termin zum nächsten: Hier hat er einen Antrag auf Hilfsgelder für ein Bildungsprojekt zu übersetzen, dort eine Absprache wegen eines Kulturprojekts zu treffen und dort eine Versammlung zur Protestaktion gegen den Ilisu-Staudamm zu leiten; das Handy klingelt dauernd, und an jeder Ecke laufen ihm Bekannte über den Weg. Während die Kaffeehausjungs davon träumen, einmal nach Deutschland auszuwandern, hat Ercan den umgekehrten Weg genommen: Der gebürtige Rüsselsheimer ist nach dem Ingenieursstudium in Darmstadt dem Impuls gefolgt, seine kurdischen Wurzeln zu finden – und in Diyarbakir hängen geblieben. Dass es in Diyarbakir nur drei Kinos und kein Bier in den Lokalen gibt, irritiert den jungen Deutschen nicht. „Die vielen jungen Leute hier, das gesellschaftspolitische Engagement, die Aufbruchstimmung“ – all das verleihe der Stadt eine Atmosphäre, die weder in Berlin noch in Istanbul zu haben sei.

In seinem Job bei der Bezirksverwaltung im Stadtteil Yenisehir hat Ercan in seinen eineinhalb Jahren schon kommunale Parks, Fußgängerzonen, Schwimmbäder und Galerien planen und verwirklichen können. Als Sprecher eines regionalen Protestbündnisses von Kommunen, Berufsverbänden und Bürgerinitiativen gegen den Ilisu-Staudamm hat er die türkische Regierung und das westeuropäische Baukonsortium ins Schwitzen gebracht. Ob es richtig war, den Arbeitsplatz in Darmstadt für das Abenteuer in Diyarbakir aufzugeben – diese Frage habe sich längst beantwortet. „Und so schlecht ist das Kulturangebot hier auch gar nicht mehr“, beteuert Ercan. Alles relativ, finden auch die anderen jungen Leute: „Vor zehn Jahren,bevor ich zum Studium fortging, war in Diyarbakir abends nichts los, aber auch gar nichts“,erinnert sich Yasemin, die Psychologin. „Als wir Kinder waren,ging nach fünf Uhr nachmittags niemand mehr auf die Straße, nicht einmal, um ein Brot zu holen“, erzählt Zelal von der Zeit des Kriegsrechts. „Wir durften abends nicht einmal hinter dem Vorhang hervor auf die Straße gucken – da gab’s sofort was hinter die Löffel.“ Heute trifft man sich abends auf der ersten Kneipen- und Vergnügungsmeile von Südostanatolien, der „Straße der Kunst“ im Stadtteil Baglar. In Grüppchen und Pärchen schlendern Hunderte junge Leute nach Sonnenuntergang über die verkehrsberuhigte Promenade unter Bäumen und Lichtern hindurch. In den Cafés und Teegärten, die sich hier aneinanderreihen, sitzt man im kurdischen Stil auf niedrigen Hockern um bunt gedeckte Tischchen zusammen; ein Buchladen namens „Frida“ lässt seine Kunden im Teegarten unter Bäumen schmökern. Alkohol wird nirgendwo ausgeschenkt, aber das stört niemanden. Bei Tee oder Cola wird überall gelacht und diskutiert. An Sommerabenden geht es anschließend oft weiter in den Kosuyolu-Park,der ebenso wie die „Straße der Kunst“ gleich nach Ende des Ausnahmezustands vor vier Jahren von der kurdischen Stadtverwaltung eröffnet wurde. 

Ganz Diyarbakir ist hier abends unterwegs: Kinder schaukeln auf taghell beleuchteten Spielplätzen, in den Teegärten rings um den Kunstsee ist kein Stuhl mehr frei und auf den Rasenflächen geht eine bunte Picknickrunde in die nächste über. Sorglos und unbeschwert scheinen die Bewohner von Diyarbakir den Abend zu genießen. „Der Schein trügt“, sagt S., der sich wie ein Schatten aus der Menge gelöst hat, um sich im Teegarten mit an den Tisch zu setzen. „Wenn du in Diyarbakir lebst, dann bestimmt der Konflikt dein Leben – da kannst du noch so unpolitisch sein.“ S.ist auf der Flucht vor den Feldjägern der türkischen Armee, abgetaucht, um dem Wehrdienst zu entgehen: ein Hundeleben, obwohl er bei Gesinnungsgenossen auf dem Bau arbeiten kann. Tagsüber erschreckt ihn jede Uniform, nachts jedes Auto, das auf der Straße hält. Aber alles sei besser, als von der türkischen Armee auf die Rebellen in den Bergen gehetzt zu werden, sagt S.: „Bei den Angriffen auf die PKK werden immer die kurdischen Rekruten verheizt.“ Ein Kindergesicht hat S. trotz seiner 27 Jahre und Augen wie ein alter Mann. Sein Dorf im Bezirk Lice wurde 1999 abgebrannt, sein Vater saß 15 Jahre hinter Gittern, er selbst hat keinen Schulabschluss, keinen Beruf und keine legale Existenz. „Du kannst hier nicht leben wie ein Mensch“, sagt S.und erinnert an die Opfer der Frühjahrskrawalle: „Jeden Augenblick können sie dich abführen, einsperren, verheizen, erschießen.“ Um ihn herum lachen und plaudern junge Männer und Frauen, der Wind weht Kinderlachen herüber. Die Zukunft? „An die glaube ich schon lange nicht mehr“, sagt S. Dann verschwindet er wieder in der Menge.


Infokasten Kurden


Mit etwa 30 Millionen Menschen sind die Kurden weltweit das größte Volk ohne eigenen Staat. Die Kurden sind ein iranisches Volk, entfernt verwandt mit den Persern, die genaue Herkunft ist unter Historikern umstritten. Ihre Sprache ähnelt am ehesten dem Persischen. Der Name „Kurdistan“ für ihr angestammtes Siedlungsgebiet ist seit dem 12.Jahrhundert überliefert, das Gebiet war Teil des Osmanischen Reiches und des Persischen Reiches, das in Teilen dem heutigen Iran entspricht. Rund 75 Prozent der Kurden sind sunnitische, der Rest schiitische oder alevitische Muslime. Die Alliierten hatten bei der Umstrukturierung des früheren Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg im Vertrag von Sèvres 1920 einen Teil Anatoliens für ein autonomes Kurdengebiet vorgesehen. Ein Vertragsentwurf der Amerikaner lag schon auf dem Verhandlungstisch der osmanischen Delegation, doch die türkische Nationalbewegung unter Mustafa Kemal Atatürk verhinderte seine Umsetzung. Der Vertrag von Lausanne von 1923 teilte das kurdisch besiedelte Gebiet dann auf die heutigen Staaten Türkei, Iran, Syrien und Irak auf. Eine Autonomie für die Kurden oder gar ein eigener Staat lagen wieder in weiter Ferne, sie verloren sogar den Status als anerkannte Minderheit. Dem kemalistischen Nationalbegriff folgend wurden sie wie alle anderen islamischen, aber ethnisch und kulturell verschiedenen Gruppen wie Tscherkessen oder Lasen zu – theoretisch gleichberechtigten – türkischen Staatsbürgern und der türkischen Nation eingegliedert. Ethnische und kulturelle Unterschiede wurden negiert, die Regierung erzeugte einen enormen Assimilierungsdruck, bei den Kurden stieß vor allem die Trennung von Religion und Staat auf Widerstand. Ein erster Aufstand der Kurden, der neben religiösen auch wirtschaftliche und politische Gründe hatte, wurde 1925 niedergeschlagen. Bis 1938 gab es mehr als zwanzig Aufstände, bei denen die kurdisch-nationale Frage unterschiedlich große Bedeutung hatte. Die militärische Unterdrückung der Kurden wurde von Deportationen und der Ansiedlung von Türken in kurdischen Regionen begleitet, kurdische Familien- oder Ortsnamen wurden turkifiziert. Die türkische Regierung leugnete sogar die Existenz der Kurden. Sie bezeichnete die Angehörigen dieses jahrtausendealten Volkes nur noch als „Bergtürken“, verbot den Kurden die eigene Sprache, schloss oder beschlagnahmte kurdische Verlage. Einen politisch anerkannten Status haben die Kurden bisher nur im Irak: Dort sind sie föderalistisch organisiert, haben ein eigenes Parlament, ihre Rechte sind in der irakischen Verfassung verankert. In der Türkei führt die kommunistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seit 1984 einen bewaffneten Kampf für einen kurdischen Nationalstaat. 37000 Menschen starben bisher in diesem Konflikt. Nachdem PKK-Führer Abdullah Öcalan 1999 festgenommen und wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, verkündete die PKK einen einseitigen Waffenstillstand. Jahrelang war es im Südosten der Türkei, wo die meisten Kurden leben, ruhiger. Doch seit etwa einem Jahr häufen sich die Angriffe der PKK wieder, die im Nordirak, etwa 25 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, Lager für ihre Kämpfer unterhält. Bis zum Juli dieses Jahres starben 14 türkische Soldaten und 40 Separatisten, der PKK zugeordnete Splittergruppierungen verübten im Juli und August mehrere Anschläge, unter anderem in Istanbul und dem Touristenort Antalya. Die türkische Regierung hatte eigentlich versprochen, das Kurden-Problem demokratisch zu lösen. Doch sie ist dem Druck nationalistischer Kreise ausgesetzt, die ein hartes Vorgehen gegenüber der PKK fordern. Der jüngste Terror der PKK ist auch eine Antwort auf die immer lauter werdende Forderung kurdischer Politiker und Intellektueller, grundsätzlich auf Gewalt zu verzichten. So verlangte der kurdische Schriftsteller Tariq Ziya Ekinci im Mai 2006: „Die PKK soll die Waffen ohne Bedingung niederlegen.“ Und der konservative kurdische Politiker Abdülmelik Firat stellte fest: „Öcalan ist nicht der Repräsentant der Kurden.“