An den Tag, als alles fast umsonst gewesen wäre, kann sich Phil noch genau erinnern. Im englischen Dauerregen zog er von Haus zu Haus. Ein „Vote Leave“-T-Shirt klebte nass auf seiner Haut. Phil war müde vom Wahlkampf und glaubte nicht mehr an einen Sieg. Trotzdem klopfte er sich bis zum Einbruch der Dunkelheit von Tür zu Tür, um noch so viele EU-Gegner wie möglich an die Wahlurnen zu bekommen.
Heute, ein Jahr später, zieht Phil an ebendiesem Ort wieder um die Häuser. Das Rot der EU-Gegner hat der 20-Jährige gegen das Blau der Konservativen getauscht. Großbritannien hat für den Brexit gestimmt, der „Scheidungsbrief“ ist schon vor gut zwei Monaten in Brüssel eingetroffen. Jetzt geht es um die Parlamentswahlen am 8. Juni und die Frage, wer die Mehrheit im Unterhaus bekommen wird: die Konservativen unter Premierministerin Theresa May oder die Labour Party unter Parteichef Jeremy Corbyn? Umfragen zufolge liegen die Konservativen vorne, doch die Oppositionellen holten in den vergangenen Tagen stark auf.
Zwei Dinge, die sie alle gemeinsam haben: Hochachtung vor Theresa May und Begeisterung für den Brexit
Mit Phil sind deshalb an diesem Montag Ende Mai trotz Feiertag gut 20 Wahlkampfhelfer nach Croydon gekommen, dem Londoner Vorort, in dem der Student wohnt. Sie bilden Teams und teilen sich die Straßen untereinander auf. In Phils Gruppe sind unter anderem Tim, weiß und sehr englisch. Samuel, sehr jung und dunkelhäutig. Rebecca, mit indischem Hintergrund und Mark, der die Gruppe mit einem Klemmbrett von Tür zu Tür schickt. Zwei Dinge, die sie alle gemeinsam haben: Hochachtung vor Theresa May und Begeisterung für den Brexit.
Für Tim ist die Europäische Union zu undemokratisch und diktatorisch. Für Samuel nicht notwendig und für Phil war das EU-Referendum ein massiver Stinkefinger gegen das englische und europäische Establishment. Eine Revolution der kleinen Leute, sagt er und zeigt auf seinem Handy stolz ein Video von einer Rede des ehemaligen Premierministers David Cameron. Darauf sind zwei junge Männer im Publikum zu sehen, die plötzlich aufspringen, grölen und ein Anti-EU-Plakat hochhalten. Es ist Phil, zusammen mit einem Freund. Das Publikum stöhnt, Cameron nimmt die Unterbrechung gelassen und geht kurz darauf ein.
Der ehemalige Premierminister hatte die Idee des Referendums selbst ins Spiel gebracht und gab sich auch eine Zeit lang öffentlich sehr EU-kritisch. Schließlich aber positionierte er sich gegen den Brexit. Auch viele andere Konservative kämpften mit aller Kraft für einen Verbleib in der EU, die Frage spaltete die Partei merklich.
Für Phil war das EU-Referendum ein massiver Stinkefinger gegen das Establishment. Eine Revolution der kleinen Leute
„Ich hatte den ganzen Tag über Bauchschmerzen, so aufgeregt war ich“, erzählt Phil, der sich unter falschem Namen auf die geschlossene Veranstaltung geschmuggelt hatte. Am nächsten Tag war ein Foto der Aktion in allen Zeitungen. Es zeigte ein politisches Phänomen, das viele verblüffte: Konservative mit Guerilla-Taktiken.
Die meisten jungen Briten stimmten klar für Europa. Bei den 18- bis 24-Jährigen waren es laut einer Nachwahlbefragung des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov am 23. Juni 2016 etwa 66 Prozent. Viele von ihnen verbinden die Europäische Union mit einer chancenreichen Zukunft. Je älter die Wähler, desto eher stimmten sie für den Ausstieg. Von den über 65-Jährigen waren nur 38 Prozent für einen Verbleib in der EU.
Auch in Lewes, knapp 80 Kilometer weiter südlich, macht der Wahlkampf an diesem Feiertag keine Pause. Callum ist seit dem Morgen auf den Beinen. Erst im Büro seiner Abgeordneten, um den Tag zu besprechen, später dann beim Wahlkampf. Der 18-Jährige lernt gerade für sein Abitur, jede freie Minute kratzt er für die Konservativen zusammen. Die blaue Rosette seiner Partei pinnt er sich aber trotzdem nur für das Foto an seinen Pullover.
Callum koordinierte die Brexit-Kampagne in seinem Wahlkreis, obwohl er zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal wählen durfte. Glücklich ist er mit dem Sieg trotzdem nicht: Er findet nicht gut, dass das Land so gespalten ist. Das anfangs so oft proklamierte „Wir“ der Brexit-Befürworter gibt es für ihn nicht mehr.
„Brexit ist toxisch“, sagt Callum. Man könne das Thema kaum noch neutral diskutieren
Auch persönlich hätte der Ausgang des Referendums für ihn erst einmal wenig Positives. „Brexit ist toxisch“, sagt er. Man könne das Thema kaum noch neutral diskutieren, sofort werde es emotional. Callum ist der einzige Brexit-Enthusiast in seiner Familie. Einige Tage nach dem EU-Referendum saßen er und sein Vater vor dem Fernseher und schauten Nachrichten. Als ein Freund der Familie vorbeikam und sich in die aufkommende Diskussion einklinkte, wurde daraus ein großer Streit. „Wir haben uns nur noch angeschrien“, erzählt Callum. Seitdem meidet er das Thema in der Familie und in großen Teilen seines Freundeskreises.
Noch stärker als das Alter, so Wissenschaftler der London School of Economics, korrelieren der Wohnort und die Bildung der Wähler mit der Haltung gegenüber der EU. Vereinfacht gesagt: Gut ausgebildete und solche, die im Norden oder größeren Städten wohnen, waren eher für den Verbleib in der EU. Schlecht ausgebildete, im Süden und der Provinz lebende Wähler votierten eher für den Ausstieg. Viele von ihnen erhoffen sich vom Brexit eine drastische Begrenzung der Zuwanderung.
Phil und Callum sind weder Hinterwäldler noch ungebildet. Phil studiert Geschichte, Callum möchte im Herbst ein Politikstudium beginnen. Beide sind schon öfter in andere europäische Länder gereist. Sie haben auch nichts gegen Migration – solange sie kontrolliert verläuft. Callums Vater ist Neuseeländer, Phils Mutter Russin.
Phil und Callum sind weder Hinterwäldler noch ungebildet
Die beiden sehen den Brexit als Chance, die Zukunft ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen. Es geht ihnen um Selbstbestimmung und Demokratie. Die sei am besten, so Callum, wenn sie so nah wie möglich beim Volk liege. „Das Europaparlament kann noch nicht einmal Gesetze auf den Weg bringen“, sagt Callum, etwas vereinfacht dargestellt. Großbritannien hätte dagegen eine demokratische Tradition, die ihn stolz mache. Auf lange Sicht, so glauben beide, würde es Großbritannien ohne die EU besser gehen.
Phil und seine Freunde ziehen deshalb dreimal täglich mit Flyern und Briefen bewaffnet um die Häuser. Sie wollen Theresa May eine möglichst breite Basis verschaffen, damit sie in Brüssel in Ruhe verhandeln kann. In den Türgesprächen taucht auch knapp ein Jahr nach dem Referendum immer wieder das Wort „Brexit“ auf. Nr. 37 findet Theresa May und ihr „Brexit bedeutet Brexit“ zu diktatorisch. Nr. 12 wird dieses Mal aufgrund des EU-Austritts konservativ wählen.
Die beiden sehen den Brexit als Chance, die Zukunft ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen
Tatsächlich saßen die Konservativen nach dem Referendum fest im Sattel, zumindest nach einigen Turbulenzen. Theresa May positionierte sich als die einzig Fähige ihrer Partei. Zwar holt die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn nun wieder auf: Der jüngsten Umfrage des Instituts YouGov für die „Times“ zufolge liegt sie nur noch drei Prozent hinter den Konservativen – dass sie die meisten Wahlkreise gewinnt, ist aber unwahrscheinlich. Auch deshalb sind die Konservativen heute siegessicher.
Vor einem Jahr war das anders. Als in den frühen Morgenstunden klar wurde, dass Großbritannien tatsächlich für den Brexit gestimmt hatte, brach bei Phil und seinen Freunden Jubel aus. Phil rannte in die britische Flagge gehüllt auf die Straße. Die Sonne ging gerade erst auf, es war sechs Uhr früh. Sie schrien, lachten und tanzten. Taxifahrer hupten, Lkws blieben stehen. Es war, so erzählt Phil heute, der beste Tag seines Lebens.
Titelbild: ANDREW TESTA/NYT/Redux/laif