Tatort: Ein Spielplatz. Zwei Mädchen im Teenageralter treten und schlagen auf ein drittes ein und lassen erst von ihr ab, als sich ein anwesender Junge halbherzig einmischt. Die Boulevardpresse findet schnell eine Bezeichnung für jenen Teil der Jugend, der sich im sogenannten "Stammeldeutsch" in Prügelvideos auf YouTube über die Opfer auch noch lustig macht: "Generation Bushido", titelte die BILD. Jugendliche werden immer respektloser und gewalttätiger, heißt es in den Medien, und schuld daran sei eine Musikrichtung, deren Inhalte mit schulfreien Nachmittagen neben Sandkästen und Schaukeln rein gar nichts zu tun haben.
Folgt man diesen Medien, die im Januar mit Schlagzeilen wie "Gewalt, Hass, Sex" titeln, hat es den Anschein, als habe es das Subgenre einer Musiksparte zu unglaublichem Einfluss gebracht: Gangsta-Rap von Künstlern wie Kollegah, Farid Bang, Bushido oder Haftbefehl, aktuell auch wirtschaftlich überaus erfolgreich, erzieht Jugendliche zu brutalen, kriminellen und sexistischen Soziopathen – so wird es zumindest suggeriert, wenn die Musik mit echten Gewalttaten in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich entstand Rap aber im New York der 1970er-Jahre, um genau solchen Entwicklungen entgegenzuwirken. Statt in einer körperlichen Auseinandersetzung sollten Kontrahenten ihre Probleme mit Worten klären. Aus den oft blutig endenden Kämpfen sollte ein kreativer Wettstreit um die besten Zeilen werden. Diesen Battle-Charakter hat Rap niemals verloren, den Wunsch nach Gewaltlosigkeit scheinbar schon.
Als die Gruppe N.W.A. mit Rappern wie Ice Cube oder Dr. Dre Ende der 1980er den Durchbruch schaffte, begann der Aufstieg des Gangsta-Rap, eines Subgenres des Rap, dessen Protagonisten mal mehr, mal weniger authentisch ihren gewalttätigen und kriminellen Alltag schildern. Was als Situation aussichtslos erschien, wurde glorifiziert, und die Rapper wurden zu Helden und Vorbildern der frustrierten Großstadtjugend aus sozial schwachen Verhältnissen. Wenige Jahre später implodierte dann das konstruierte Universum aus Rap-Fehden und provokanten Diss-Tracks zwischen der Ost- und der Westküste der USA: Mit The Notorious B.I.G. und 2Pac wurden zwei Aushängeschilder der gespaltenen HipHop-Lager ermordet. Der Popularität des Genres schadete aber selbst das nicht: Auch heute noch gehört Gangsta-Rap zu den kommerziell erfolgreichsten Musiksparten.
Rapper statt Lackierer
Szenenwechsel. Ende der 1990er irgendwo im bürgerlichen Süden Berlins: Ein junger Mann bastelt an seinen Songs. Anis Mohamed Youssef Ferchichi möchte nicht in seinem Lehrberuf als Maler und Lackierer arbeiten – und er ist ehrgeizig. Weil er weiß, dass der Pfad zum Erfolg steinig ist, gibt er sich einen japanischen Namen, der so viel wie "der Weg des Kriegers" (Bushido) bedeutet. Im Track "Schlangen" von seinem ersten Demotape rappt er "Kümmer' dich um HipHop, denn das ist deine Leidenschaft". 2003 veröffentlicht er mit "Vom Bordstein bis zur Skyline" einen Meilenstein der deutschen Rap-Geschichte und eines der wohl ersten, authentisch klingenden Gangsta-Rap-Alben der Bundesrepublik. Bushido hat es gepackt: weg von der abgebrochenen Gymnasialbildung und den ersten Problemen mit dem Gesetz hin zur aussichtsreichen Musikkarriere. Kriminelle Verbindungen werden ihm und seinem Umfeld auch heute noch nachgesagt, der Rapper selbst wurde in der Vergangenheit bereits wegen Beleidigung angeklagt.
Viele sind Bushido & Co auf diesem Weg gefolgt. Indem sie ihre eigene Geschichte erzählen, ihr Selbst ausdrücken und durch Musik verwirklichen, eröffnet das Genre Jugendlichen, unabhängig vom gesellschaftlichen Stand, neue Möglichkeiten und Perspektiven. Sei es als Hobby, das sie von der Straße holt und motiviert, oder tatsächlich als berufliche Perspektive. Kein Wunder also, dass selbst christliche Jugendhilfswerke wie "Die Arche" in Berlin mit Gangsta Rap-Musikern zusammenarbeiten und ihre "Sorgenkinder" in speziellen Workshops dazu einladen, ihre Geschichte musikalisch – und in ihrer eigenen Sprache – zu verarbeiten. Im Jahr 2009 wurde mit dem Rap-Sampler "Deutschlands Vergessene Kinder" sogar explizit Geld für das Jugendhilfswerk gesammelt.
Gangsta-Rap zwischen Kunstform und realer Gewalt
Rap, auch Gangsta-Rap, kann helfen, schwierige Lebenslagen wie Gewalt oder soziale Ungerechtigkeit in etwas Kreatives zu verwandeln. Aber Gangsta-Rap ist auch ein Film für die Ohren, ein atmosphärisches Unterhaltungsinstrument, dem "ohne ein Wissen um szenetypische Kontexte und Bedeutungen", so der Soziologe Christoph Liell, gerne einmal jegliche künstlerische Daseinsberechtigung abgesprochen wird.
Das ist schade, denn Künstler wie Kollegah, der nebenbei Jura studiert, übertreffen sich gegenseitig an absurden Kriminalitäts- und Gewaltszenarien und nutzen dabei die sprachlichen Möglichkeiten der textintensiven Musikrichtung Rap. Haftbefehl hingegen eckt – vor allem, wenn er politisch wird – durchaus mit seinen Texten an und hat schon heftige Kritik einstecken müssen. Gibt er sich aber als einfacher und charismatischer Junge von der Straße, ist es vor allem seine einzigartige Stimme, die er – ganz im Stile französischer Rapper und unter Vermischung verschiedener Sprachen – als regelrechtes Instrument nutzt. Mit "Babo" lieferte der gebürtige Offenbacher außerdem das Jugendwort des Jahres 2013.
Dennoch gibt es bisher keine einzige empirische Studie, die eine Verbindung zwischen ausgeübter Kriminalität und Gangsta Rap herstellen konnte. Und das, obwohl die Diskussion um solche Wechselwirkungen nicht neu ist. Bereits 2002 brachte der Soziologe Christoph Liell in seinem Vortrag "Musik und Gewalt in Jugendkulturen" das elementare Problem derartiger Forschungsansätze auf den Punkt: "Ungeklärt bleibt dabei […] ob spezifische musikalische Präferenzen tatsächlich eine höhere Gewaltaffinität verursachen, oder ob umgekehrt nicht Befragte mit schon bestehenden ausgeprägteren Gewaltneigungen bestimmte Musikstile bevorzugt hören." Wichtig sei hier – wie in so vielen Fällen - der Dialog zwischen Jugendlichen und Erwachsenen mit gefestigten Wertvorstellungen. Wer weiß, dass nicht alle Frauen "Huren" sind, wird eine solche Äußerung im Rahmen eines Rapsongs besser einzuordnen wissen – ob als gewollte Überspitzung, als bewusster Angriff im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung oder eben auch als dumme Propaganda eines weniger reflektierten Musikers.Natürlich gibt es da auch die andere Seite. Die, die jede Kritik am kriminellen Vorbildpotenzial von gewaltverherrlichenden, diskriminierenden oder frauenfeindlichen Gangsta-Tönen und dem kommerziellen Erfolg ihrer Vertreter zu bestätigen scheint. Rapper Xatar sitzt wegen eines Überfalls auf einen Goldtransporter im Gefängnis. Bushidos Ex-Zögling Kay One will gegen dessen Umfeld aussagen und muss nun angeblich um sein Leben fürchten. Das hat dann nichts mehr mit der Musik und den damit zelebrierten harten Image zu tun, sondern das sind ganz klar reale Fälle von Gewalt und Kriminalität. Wenn insbesondere junge Menschen den ganzen Tag hören, wie vermeintlich erstrebenswert Selbstjustiz, Drogenhandel und die allgemeine Missachtung des deutschen Rechtsstaats sind – wie sollten sie davon nicht negativ beeinflusst werden? So lautet entsprechend auch das Hauptargument der Kritiker.
Wenn sich junge Menschen in ihren Ängsten und ihrer Wut alleine gelassen fühlen, dann braucht es vielleicht jemanden wie den Frankfurter Azad, der rappt: "Wir sind die Letzten in der langen Schlange zur Kasse des Lebens." Azad weiß, wovon er spricht. Dass genau derselbe Künstler einen Song später zum rhetorischen Sparring antritt und seinem imaginären Gegner den Kiefer einschlägt, mag da für Außenstehende schwer zu verstehen sein. Sollte aber jemand genau in diesem Rap-Part ein Ventil finden und mit etwas weniger Aggression im Bauch zur Schule gehen – dann hat die Musik ihre Rolle erfüllt.
Links
Auf bpb.de: "Musik und Gewalt – Gratwanderung zwischen Kunst und Manipulation"
Auf rap.de: "Hip Hop Hilft – Zu Gast beim Workshop in der Arche"
spex.de: "Keiner will was gesagt haben"
Der Songtext zu "Phoenix" von Azad