Alle reden davon, dass Deutschland schrumpft. Ist das wirklich so schlimm?

Bis zum Jahr 2050 müssen wir mit einem Bevölkerungsrückgang von elf bis zwölf Millionen rechnen. Das ist sehr viel, vor allem weil diese Menschen in den Regionen fehlen werden, die jetzt schon sehr dünn besiedelt sind. Da die Lebenserwartung parallel ständig steigt, haben wir zusätzlich eine immer ältere Bevölkerung.

Welche Regionen trifft das?

Vor allem solche im Osten Deutschlands, vermehrt aber auch die ärmeren Regionen in Westdeutschland: das Ruhrgebiet, das ehemalige Grenzgebiet zwischen Bundesrepublik und DDR und das Saarland. Dort sind die Jobs in den alten Industrien weggefallen und neue Industrien haben sich nicht angesiedelt, deshalb sind die jungen Menschen weggezogen. Die älteren Menschen, die noch dort leben, kriegen keine Kinder, also geht der Schwund verstärkt weiter. In den ländlichen Gebieten in Ostdeutschland, in denen das schon geschehen ist, wird die Infrastruktur abgebaut – es gibt also weniger öffentliche Einrichtungen wie Jugendzentren, Busse, Schwimmbäder, aber auch weniger Postämter oder Supermärkte – und das ist die Anpassung.

Stellen wir uns zusammen den Lebensweg eines im Jahr 2000 geborenen Jungen aus einer ländlichen Region in Sachsen-Anhalt vor, mit Eltern, die mittlere Angestellte sind, keine größeren finanziellen oder gesundheitlichen Probleme, durchschnittlicher Ausbildungsweg. Wo wird er 2020 sein?

Wenn er in Sachsen-Anhalt bleibt, wird er zu einer Minderheit gehören. Wenn man in den Gebieten, von denen ich eben gesprochen habe, Umfragen unter jungen Leuten macht, stellt sich immer heraus, dass sie fast alle dort wegziehen wollen. Die Bereitschaft dazu steigt mit höherem Bildungsabschluss: fast 100 Prozent der Abiturienten möchten gehen. Diejenigen, die bleiben wollen, tun das nur, wenn sie einen Ausbildungsplatz finden, oder, was leider häufig ist, wenn sie keinen finden oder die Schule abbrechen. Denen fehlt dann auch einfach die Qualifikation, um sich irgendwo anders zurechtzufinden.

Das heißt, unser Junge ist 2020 ziemlich allein.

Das kann man so sagen. Das ist leider das Schicksal einer ganzen Reihe von jungen Leuten in diesen ländlichen Gebieten, und zwar von mehr Männern als Frauen, da die noch viel häufiger in den Westen abwandern. Die Männer, die zurückbleiben, kann man oft so beschreiben: nicht qualifiziert, kein Job, keine Frau.

Würde Ihre Antwort also anders ausfallen, wenn wir uns ein Mädchen vorgestellt hätten?

Ja. Die Mädchen sind in der Regel besser in der Schule, und finden so auch meist leichter einen Ausbildungsplatz, sie sind auch flexibler und eher bereit, Jobs im Dienstleistungsbereich zu übernehmen: in Banken, im Gesundheitsbereich, in Versicherungen und so weiter. Dort gibt es auch mehr Arbeitsplätze, da die klassischen Malocher-Jobs in Zechen und Industrie weggefallen sind. Der Arbeitsmarkt hat sich zugunsten der Frauen entwickelt, während die Männer nicht begriffen haben, dass man auch als Mann als Altenpfleger arbeiten kann.

Könnte eine neue Familienpolitik verhindern, dass sich Regionen »gesundschrumpfen« müssen?

Eine solche Politik müsste dazu führen, dass jede Frau 2,1 Kinder bekommt. Das ist sehr schwer. Wir haben seit 35 Jahren eine Fertilitätsrate von 1,4, das heißt seit mehr als einer Generation. Das wird irgendwann zu einer sozialen Norm: Im Umfeld der meisten jungen Menschen gibt es einfach wenig Kinder, man hat keine oder wenig Geschwister und es ist sogar normal, überhaupt keine Kinder zu haben. Dadurch sinkt auch die Zahl der Kinder – eben weil sich weniger Menschen welche wünschen. Und genau das kann ja die Familienpolitik nicht ändern. Sie kann nur denen, die sich überhaupt Kinder wünschen helfen. Wir haben mal eine Umfrage unter Leuten gemacht, die keine Kinder haben, aber gern welche hätten, um herauszufinden, woran es liegt. Die Mehrzahl sagte: Es fehlt der geeignete Partner – meistens der Mann. Daran kann auch die Familienministerin nichts ändern.

Wie kann man den Jugendlichen in den sogenannten strukturschwachen Gebieten Mut machen?

Man muss diesen Jugendlichen sagen, dass im Prinzip alle Regionen Potenziale haben. Man muss aber gleichzeitig sagen, dass der Trend bei einer schwindenden Bevölkerung in die Zentren geht. Der Wandel zu einer Wissensgesellschaft beschleunigt den Drang in die Städte zusätzlich. In Volkswirtschaften wie unserer, die kreative Ökonomien sind, gehen die Kreativen zu anderen Kreativen. Und die sitzen in den Städten, und nicht auf dem mecklenburg-vorpommerischen Land. Deshalb muss man den Leuten realistischerweise sagen: Geht lieber in die Städte, wenn ihr in euren Heimatregionen keine Potenziale findet. Diese Potenziale können wir leider nicht immer finden.

Warum kann man die nicht finden?

Potenziale, die erst in den nächsten fünf Jahren entdeckt werden, kennt keiner. Das heißt aber nicht, dass sie nicht da sind. Nur ein Beispiel: In der fränkischen Rhön hat ein Brauer, der kurz vor der Pleite stand, die Bionade erfunden. Ein geniales Produkt, das dort Tausende Arbeitsplätze geschaffen hat, weil versucht wird, mit Rohstoffen aus der Region zu arbeiten. Durch diese Innovation, dieses kreative Produkt, hat er also einen Grund zum Bleiben geschaffen. Wenn solche Potenziale verwirklicht werden, sollen junge Leute auch um Himmels willen in ihren Regionen bleiben. Aber man muss realistisch einschätzen: geht das, oder geht das nicht?

Wie muss der Staat auf das Problem reagieren?

Ich befürworte den Abbau von sinnlosen Regulierungen: gerade in Krisengebieten brauchen wir neue Strukturen. Es gibt mehr Potenziale, als wir wissen, weil es auf allen Ebenen so viele Regelwerke gibt, die der Kreativität im Weg stehen. Das beste Beispielsind die Schulen: Es gibt sehr viele Regeln, wie eine Schule auszusehen hat: so und so viele Schüler, so und so viele Parallelklassen, so und so viele Toiletten. Wenn eine bestimmte Normgröße unterschritten wird, schließt eine Schule. Das ist keine kreative Lösung für eine schrumpfende Region mit wenigen Kindern. In solchen Fällen sollte man Zwergschulen zulassen oder Schulen, die von Ort zu Ort pendeln. Das sind neue Modelle, die man ausprobieren muss – wenn Regionen das im Moment möchten, werden sie jedoch dabei behindert.

Wenn man die von Ihnen gemachten Vorschläge tatsächlich umsetzen würde, wann könnten sich die positiven Effekte frühestens zeigen?

Das kann man nicht sagen. Zum Teil kann das sehr schnell gehen – ein Bionade-Effekt zeigt zum Beispiel sehr schnell Wirkung. Andere Dinge, wie zum Beispiel Bevölkerungsstabilität durch höhere Kinderzahlen, dauern ewig. Es sei denn, man löst das durch Zuwanderung, dann geht es schneller. Dazu müsste man aber das Zuwanderungsgesetz ändern, das im Moment Zuwanderung geradezu behindert. In Großbritannien hat man das ganz anders gelöst, dort hat man von der Zuwanderung hoch qualifizierter Balten und Polen stark profitiert. Die Angst, überrannt zu werden, war in Deutschland geradezu absurd.

Wie kann sich ein einzelner Jugendlicher, um einen sinnvollen Umgang damit bemühen, dass sich bestimmte Regionen so schlecht entwickeln, wie Sie es in Ihren Studien beschreiben?

Schauen, wo Entscheidungen getroffen werden. Schauen: was macht unser Bürgermeister eigentlich? Wenn ein Jugendklub geschlossen werden soll, fragen, woran es liegt: Fehlt das Geld? Fehlt es an Leuten, die sich engagieren? Meistens ist es das. Es kann tatsächlich jeder was bewirken, der sich entschließt, sich zu engagieren und zum Beispiel die Jüngsten im Fußballklub zu trainieren. Gerade in den Problemregionen auf dem Land brauchen wir extrem viel von dieser Art Zivilgesellschaft.

 

Reiner Klingholz ist seit 2003 Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Unter seiner Leitung erschien im Juni 2009 die Studie Demografischer Wandel.