10. Mai: Vor sechs Tagen hat Iskra aufgehört zu reden. Seither sitzt sie tagein, tagaus in ihrer notdürftig zusammengestellten Spielecke, aber sie spielt nicht mehr. Sie kauert auf dem Boden. Ab und zu hören wir sie leise wimmern. Selbst Cveta hat es bislang nicht geschafft, sie zu trösten. Vor sechs Tagen wurde Iskras Vater von einem Scharfschützen erschossen.
Als „This War of Mine“ 2014 erschien, stellte der Titel das Genre des Kriegsspiels auf den Kopf. Statt in die Rolle eines Supersoldaten versetzte es seine Spieler/-innen an das andere Ende des Schlachtfelds: in die zerstörten Häuser der Zivilisten. Mit dem Add-on „The Little Ones“, das nun für die Playstation 4 und Xbox One erschienen ist und in Kürze auch für den PC erhältlich sein soll, erweitert das polnische Entwicklerstudio 11 bit studios diese ungewöhnliche Perspektive noch einmal. Unter den zusätzlichen Charakteren sind auch Kinder.
Wie schützt man die Bewohner vor Kälte, Hunger oder Einbrechern?
Sie in der besetzten Stadt am Leben zu halten ist gar nicht so einfach. Das Strategiespiel bietet wenig Hilfestellung. Man muss selbst herausfinden, wie man die Bewohner/-innen eines zerschossenen Hauses vor Kälte, Hunger und nächtlichen Einbrechern schützen kann. Per Tastendruck kann man eine der bis zu vier Figuren auswählen und ihr einfache Aufgaben zuweisen, etwa Möbelbauen oder Kochen. Sobald der Tag endet, kann man eine Person losschicken, um in den Trümmern Holz zu sammeln oder Wasser zu holen.
All diese Aktionen erfordern taktisches Kalkül: Baue ich wegen des nahenden Winters zuerst einen Ofen anstelle eines Bettes, auch wenn das Schlafentzug zur Folge hat? Schicke ich den Ex-Fußballprofi Pavle auf Beutejagd, weil er notfalls auch vor einem Soldaten davonrennen kann, oder ist die Gefahr zu groß, dass er erschossen wird? Es lauern ja überall Scharfschützen. Und vor allem: Spiele ich mit dem Kind, um es kurzzeitig von den Schrecken des Krieges abzulenken, obwohl es doch eigentlich so viel Wichtigeres zu tun gäbe?
Kein Spiel, das unterhält, sondern berührt
Doch das Taktieren wird immer wieder durch unvorhersehbare Ereignisse durcheinandergebracht. Mal bricht plötzlich der Winter ein und einzelne Charaktere erkranken schwer, mal nehmen brutale Eindringlinge alles an sich, was man in der Nacht zuvor noch erschöpft nach Hause getragen hat.
21. Mai: Cveta hat es nicht mehr ertragen, Iskra leiden zu sehen, und mit ihr das Haus verlassen. Wohin die beiden gegangen sind, weiß niemand. Ich fühle mich furchtbar. Wir waren so beschäftigt damit, Konserven und Bauteile zu besorgen, dass wenig Zeit für Gespräche mit der Kleinen blieb. Wir haben nie mit ihr gespielt, haben ihr bloß ein Sprungseil in die Hand gedrückt und dachten, dass sie sich selbst beschäftigen kann. Aber wie soll man auch unbeschwert spielen, singen, reden, wenn draußen ständig Schüsse fallen und der nächste Tag der letzte sein kann?
Im Gegensatz zu allen anderen Hausbewohner/-innen können die Kinder nicht sterben. Vernachlässigt man ein Kind zu sehr, wird es allerdings irgendwann von einer anderen Spielfigur fortgebracht. Und natürlich quält einen dann das Gefühl des Scheiterns, wenn man einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen in dieser bedrückenden Umgebung sich selbst überlassen hat. Und selbst wenn am Ende des Krieges alle Zivilisten noch leben, will sich keine Freude einstellen. Zu schlimm ist das Erlebte, zu deprimierend der sich wiederholende Alltag gewesen, in dem man hilflose Menschen überfallen hat, um das eigene Überleben zu sichern.
„This War of Mine: The Little Ones“ holt den Krieg in unser Wohnzimmer und veranschaulicht die dramatischen Konsequenzen trotz seines fiktiven Szenarios wohl intensiver, als Zeitungs- oder Nachrichtenbeiträge das könnten. Denn im Spiel sind wir selbst die Opfer und erfahren, was es heißt, konstanter Bedrohung ausgesetzt zu sein. In Zeiten, wo die Zäune an den europäischen Grenzen hochgezogen werden und erbittert um die Flüchtlingskontingente gefeilscht wird, wirkt das umso beklemmender.
Nina Kiel arbeitet als Spielejournalistin und Game Designerin. Sie ist überzeugt davon, dass Spiele unseren Horizont erweitern können und freut sich sich über jeden Titel, der sich daran versucht.