Thema – Political Planet

Suchen Newsletter ABO Mediathek

„Wird er wiedergewählt, bin ich weg“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan regiert mehr und mehr islamisch-konservativ. Wie gehen Menschen mit alternativen Lebensentwürfen damit um?

Keine Alternativen?

2003 wurde Recep Tayyip Erdoğan türkischer Ministerpräsident, 2014 Präsident. Er bestimmt den politischen Kurs seines Landes also seit 20 Jahren maßgeblich mit – für jüngere Türk:innen also quasi seit immer. Und nun könnten noch fünf weitere Jahre hinzukommen, denn am 14. Mai finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt.

Gesellschafts- und familienpolitisch verfolgen Erdoğan und seine Partei, die AKP, dabei einen islamisch-konservativen Kurs, der sich im Laufe seiner Amtszeiten verschärft hat. 2002 stand die AKP in den Augen vieler noch für Demokratisierung und europäische Werte. Heute wird sie mit religiösen Beschränkungen der Meinungsfreiheit und einer religiös dominierten Justiz, aber auch mit verpflichtetem Religionsunterricht und weitreichenden „Jugendschutz“-Maßnahmen assoziiert. Wie geht es Türk:innen mit Lebensentwürfen, die diesen Moralvorstellungen nicht entsprechen oder entsprechen wollen? Und mit welchen Erwartungen und Hoffnungen schauen sie auf die Wahl? Wir haben drei von ihnen gefragt.

Hazal Sipahi

Es gibt in der Türkei zu viele Tabuthemen, findet Hazal. Und um darüber zu sprechen, startete sie 2019 eine Sendung bei einem Radiosender in Istanbul. Schnell kristallisierte sich ein zentrales Tabu heraus: Sexualität. Doch weil die Rundfunkregulierungsbehörde Begriffe wie „Vulva“ und „Penis“ zensierte, macht die heute 31-Jährige aus ihrer Idee einen Podcast, den sie in Eigenregie hostet.

hazal.jpg

Hazal Sipahi (Foto: Emre Barut)
(Foto: Emre Barut)

In „Mental Klitoris“ spricht Hazal mit Gäst:innen über Sex, sexuelle Gesundheit, Gender und vieles mehr. Ihr Ziel: Aufklärung. „Ich habe mir die 15-jährige Hazal vorgestellt. Welches Wissen hätte sie gebraucht?“ Für eine türkische Teenagerin ohne Englischkenntnisse gab es in den Nullerjahren kaum zugängliche Informationen über Sex, Masturbation und all das oder Antworten auf Fragen, wie man mit Nacktheit und Scham umgehen kann und wie man Gynäkologen begegnet, die sich als Moralpolizei aufspielen. Und daran hat sich leider auch wenig geändert. „Wenn Männer uns zum Beispiel auf der Straße belästigen – wie sollen wir verstehen, dass das sexualisierte Gewalt ist, wenn wir die Konzepte nicht kennen?“

Die türkische Gesellschaft sei immer patriarchal gewesen, sagt Hazal. Aber in den letzten Jahren sei es härter geworden. „Die AKP-Regierung hat den Zugang zu Informationen über sexuelle Gesundheit eingeschränkt und Abtreibungen stark erschwert.“ Recep Tayyip Erdoğan selbst lehnt Geschlechtergleichheit ab. Auch ist die Türkei im Jahr 2021 aus der internationalen Istanbul-Konvention ausgetreten, die Gewalt gegen Frauen bekämpfen soll. Dabei nimmt genau diese zu, in der Türkei wird statistisch täglich mindestens eine Frau von einem Mann getötet. „Falls die Opposition die Wahl gewinnt, wird es sicher besser werden“, sagt Hazal. „Aber wie viel besser?“

Çağlar Sür

Seit 2007 legt Çağlar auf, erst in Istanbuler Clubs, heute als Mx. Sür in halb Europa. Çağlar identifiziert sich als queere Person, nutzt als Pronomen they/them. They ist multidisziplinäre Künstler:in, produziert auch Musik und hat ein queeres Labelkollektiv gegründet. „Die queere Musikcommunity hier ist so talentiert, es war noch nie so gut“, sagt Çağlar stolz. „Das ist das Positive an dieser queerfeindlichen Regierung: Wir leben in großer Solidarität zueinander, und so entstehen neue Ausdrucksformen und viel Kreativität.“

Çağlar ist 38 und kann sich noch an den Beginn von Erdoğans Regierungszeit 2003 erinnern. Anfangs war es okay: Damals versprach er noch als Ministerpräsident, die Rechte von LGBTQ-Personen zu schützen. „Wir wussten zwar, das sind Islamisten, aber wenigstens die Wirtschaft lief.“ Doch nach und nach kamen die Einschränkungen, etwa ein nächtliches Alkoholverkaufsverbot, Internetzensur und dann, 2013: Gezi. Ursprünglich wollten die Tausenden Demonstrierenden den Istanbuler Gezi-Park vor einer dort geplanten Mall retten. Doch dann ging es schnell um den Rücktritt der autoritären Regierung. Erdoğan ließ den Park am Ende gewaltsam räumen.

„Nach Gezi wurde es schlimmer“, sagt Çağlar. Mehr und mehr machte Erdoğans Regierung auch die LGBTQ-Szene als Ziel aus. Vor allem jetzt im Wahlkampf: Sie seien Perverse und Terroristen, man werde die Bewegung bekämpfen, weil sie die Familienwerte angreife. „Es ist furchtbar“, sagt Çağlar. „Ich bin privilegiert, weil ich männlich gelesen werde und das Land immer mal wieder verlassen kann. Aber für viele andere gilt das nicht.“

Über Erdoğans Gegenkandidat Kılıçdaroğlu sagt they: „Er ist nicht unbedingt pro-queer, aber immerhin erwähnt er uns in seinen Reden. Seine Politik wird weniger diskriminierend sein.“ Doch egal, wie die Wahl ausgeht, die wirtschaftliche Krise wird erst mal bleiben. „Die Lebensmittelpreise steigen jeden Tag!“ Und so wird für Çağlar die Wahl auch persönlich entscheidend sein. „Wenn er wiedergewählt wird, bin ich weg, so schnell es geht. Es ist einfach zu viel.“ Ziel dann: Berlin.

Zehra Ömeroğlu

Als Zehra Ömeroğlu erfährt, dass der Staat sie angeklagt hat, fühlt sie nichts. „Ich war geschockt“, sagt die 38-jährige Cartoonistin. Sie habe zwar befürchtet, dass eine ihrer Zeichnungen ihr einmal Ärger einbringen könnte. Eine von den islamkritischen vielleicht, eine, in der sie das Kopftuch thematisiert. Aber dieses harmlose Bild? „Absurd.“

zehraomeroglu.jpg

Zehra Ömeroglu (Foto: Sinan Ceylan)
(Foto: Sinan Ceylan)

Der Cartoon aus dem Jahr 2020 trägt den Titel „Pandemie-Sex“ und zeigt ein kaum bekleidetes Pärchen. Er vergräbt seine Nase in ihrem Hintern und sagt erleichtert, er habe den Geruchssinn nicht verloren. Spontan gezeichnet für einen schnellen Witz zum damals neuen Pandemie-Lebensgefühl, nicht weiter bedenkenswert, bis zwei Jahre später die Anklage kommt. Straftatbestand Obszönität, bis zu drei Jahre Gefängnisstrafe möglich. „So viel zum Zustand der Meinungsfreiheit in der Türkei“, sagt Zehra. Im weltweiten Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 165 von 180. Nach dem Wahlsieg der AKP 2002 war es immerhin noch Platz 99.

Zehra zeichnet für zwei Istanbuler Satiremagazine, deren kritische Inhalte Erdoğans Regierung nicht immer gefallen. „Wenn sie dich aber für einen politischen Cartoon anklagen, erzeugt es Lärm. Damit machen sie dich eher zur Heldin“, erklärt Zehra. „Für so ein lächerliches Bild – das interessiert niemanden.“ Drei Tage vor der Gerichtsverhandlung, bei der Zehra das Urteil erwartet, bebt dann die Erde in der Südosttürkei, was alles verändert. Der Prozess wird verschoben auf den 23. Mai. Falls die Opposition gewinnt, hofft Zehra, wird ihre Situation weniger aussichtslos sein.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.