Selbst erfahrene Politprofis waren von den Erkenntnissen im November 2011 tief geschockt: Die Kanzlerin sprach von einer „Schande für Deutschland“. Der Bundesinnenminister räumte ein, dass deutsche Sicherheitsbehörden „kläglich versagt“ haben. „Wir sind alle bestürzt“, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert. „Wir sind betroffen und beschämt.“ Unversehens sahen sich damals Politik und Öffentlichkeit mit schlimmster Nazi-Gewalt konfrontiert: Drei junge Rechtsextreme aus Jena waren Ende der 90er-Jahre abgetaucht und hatten eine Terrorgruppe namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gegründet. Im Laufe von 13 Jahren überfielen sie reihenweise Banken, legten Bomben und ermordeten mindestens zehn Menschen. Besonders schmerzhaft für neun der Opfer und deren Angehörige: Wegen ihrer türkischen und griechischen Vorfahren war die Verbrechensserie verharmlosend „die Döner-Morde“ genannt worden, und die Polizei hatte die Taten als Racheakte unter mafiösen Migranten behandelt und entsprechend ermittelt. Als der NSU eher zufällig aufflog, war das Erschrecken groß. Bundespräsident Christian Wulff versprach „Konsequenzen für die Zukunft“. Und tatsächlich begannen die staatlichen Mühlen sofort zu mahlen. Eine Vielzahl von Pannen bei der Terroristenjagd ist inzwischen bekannt geworden, eine umfassende Fehlerdiagnose wurde in Angriff genommen.

Die Sicherheitsbehörden verwiesen darauf, dass man den wahren Hintergrund der Taten nicht habe erkennen können, weil die Terroristen keine Bekennerschreiben verschickt hatten. Dabei ist dieses Vorgehen unter Nazis nicht unüblich. „Mit uferlosen, theoretisch ausgefeilten Bekennerschreiben tat sich die Szene zu keiner Zeit hervor“, sagt der Düsseldorfer Rechtsextremismusforscher Fabian Virchow. Tatsächlich rät die britische Nazi-Terrorgruppe „Combat 18“ in einem Handbuch, das im Internet zum Download bereitsteht, über eigene Aktionen strikt zu schweigen. Und explizit wird dazu aufgerufen, keine Bekennerschreiben zu hinterlassen, um durch die Ungewissheit gesellschaftliche Spannungen zu verstärken. Offenbar haben Staat und Öffentlichkeit den braunen Terrorismus unterschätzt. Dabei habe das Phänomen, so Fabian Virchow, „die Bundesrepublik seit den 50er-Jahren begleitet“. So gab es in den 70ern die Wehrsportgruppe Hoffmann, aus deren Reihen ein Attentat auf das Münchner Oktoberfest mit 13 Toten und über 200 Verletzten verübt wurde – bis heute der schwerste Terroranschlag in Deutschland. 1980 verübten die „Deutschen Aktionsgruppen“ von Manfred Roeder Bomben- und Brandanschläge auf Behörden, Flüchtlingsheime und eine jüdische Schule. In den 90er-Jahren schoss der rechtsextreme Kay Diesner in Berlin einen linken Buchhändler nieder und tötete auf der Flucht einen Polizisten. Auch in der jüngsten Vergangenheit waren bei Hausdurchsuchungen in der Nazi-Szene immer wieder Sprengstoff und Waffenarsenale gefunden worden – doch wenn Journalisten oder Antifa-Aktivisten vor rechten Terroristen warnten, wurden sie schon mal der Panikmache bezichtigt.

Eine zentrale Computerdatei für Nazi-Gewalt

Seit November 2011 versuchen nun mehrere Hundert Polizisten und Verfassungsschützer mit Hochdruck, sowohl die Taten des NSU aufzuklären als auch die Versäumnisse aus den Vorjahren. Die Terroristen waren ja schon Ende der 90er-Jahre als Bombenbastler polizeibekannt gewesen – aber die Thüringer Behörden versäumten damals ihre Festnahme. Danach befassten sich im Laufe der Jahre rund 30 verschiedene Behörden mit dem Fall: Mehrfach wurden in verschiedenen Bundesländern Überwachungsmaßnahmen abgebrochen oder Ergebnisse nicht oder nur langsam an Kollegen anderswo weitergeleitet. V-Leute – also bezahlte Informanten aus der Nazi-Szene – tricksten den Verfassungsschutz aus, ohne dass der das merkte. Im Jahr 2003 wurde die Suche nach den Terroristen ganz eingestellt. Drei Jahre später wurde beim Bundesamt für Verfassungsschutz die eigenständige Fachabteilung für Rechtsextremismus aufgelöst.

Mittlerweile gibt es diese Abteilung wieder. Nach dem Schock vom November trafen sich die Justizministerin und der Innenminister in Berlin zu einer Sonderkonferenz. Die Thüringer Landesregierung, in deren Bundesland die Nazi-Gefahr besonders unterschätzt worden war, veranstaltete ein großes Konzert gegen Rechts. Die Sicherheitsbehörden gründeten ein „Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechts“ und eine zentrale Computerdatei für Nazi-Gewalttäter. Im Januar sprachen die Familienministerin und der Innenminister mit Bürgerinitiativen, die seit Jahren gegen Rechtsextremismus aktiv sind – aber die zwei Millionen Euro, die der Bundestag im November zusätzlich bewilligt hatte, gehen nicht an diese Gruppen, sondern in den Aufbau eines staatlichen Info-Zentrums. Zudem wurden einige Kommissionen eingerichtet. Zum Thema Rechtsterrorismus gibt es inzwischen fünf verschiedene. Die erste stellte der Bundesinnenminister gleich Ende November vor – aber bis Februar hatte sie sich noch nicht getroffen. Daneben berief der Innenminister in Thüringen eine Kommission, der dortige Landtag bildete einen Untersuchungsausschuss, ebenso der Bundestag. Als Letztes startete im Februar eine „Bund-Länder-Kommission“. Schon hat ein Tauziehen darum begonnen, wer wann welche Akten einsehen und welche Sicherheitsbeamte als Zeugen vernehmen darf. Im Februar schließlich sprach Bundeskanzlerin Merkel auf einer Gedenkfeier für die Opfer des NSU, an der auch Angehörige der Ermordeten teilnahmen, und bat sie um Verzeihung, dass sie zu ihrem Leid auch noch falschen Anschuldigungen ausgesetzt waren. Man kann das als klaren Auftrag an die Behörden sehen, aus der Vergangenheit zu lernen.