NEW YORK (dpa) Die UN-Vollversammlung hat in der Nacht zu Mittwoch mit großer Mehrheit beschlossen, dass fortan der Einsatz von Gummigeschossen bei Kriegs- und Polizeieinsätzen geächtet wird. Auch Deutschland stimmte für den Entwurf, der unter Fachleuten keineswegs unumstritten ist. Günther Bessenmacher, Professor für Ballistik an der TU Wiesbaden, verweist auf NGO-Studien, die zeigen, dass in Ländern, in denen Gummigeschosse bereits verboten sind, wieder mehr mit tödlicher Munition geschossen wird.
Der erste Absatz dieses Artikels ist nur ausgedacht, aber im richtigen Kontext durchaus glaubwürdig: Die Ortsmarke und das Agenturkürzel am Anfang, der sachliche Stil, das Zitieren von Experten und Studien, all das simuliert Seriosität und Authentizität, einfach weil es gelernten Mustern der Leser entspricht. Dabei ist auch egal, dass sie von den Experten noch nie etwas gehört haben. Sie wissen einfach, wie eine Zeitungsmeldung klingt, können sie etwa von einer Glosse oder Kurzgeschichte unterscheiden. Diese Art von Medienkompetenz hat fast jeder von uns, und wir müssen uns im Alltag auf sie verlassen können, um Dinge schnell einordnen zu können.
Was mit Texten funktioniert, geht im unmittelbareren und emotionaleren Medium Film umso besser. Auch hier haben sich in den 120 Jahren Filmgeschichte Codes und Muster herausgebildet, an denen wir sofort zu erkennen glauben, dass es sich um „dokumentarisches Filmmaterial“ handelt: Die Art der Beleuchtung, ein oftmals ruhigerer Schnitt, die Auswahl der Kameraeinstellungen, die Abwesenheit von Musik, das Auftreten eines allwissenden Offsprechers gehören zu diesen Stilmitteln. Eine verwackelte Kameraführung mit mieser Beleuchtung simuliert Undercover-Aufnahmen. Und wenn Menschen vor schwarzem Hintergrund sitzen, bis zur Brust gezeigt werden und mit ernster Stimme ihre Geschichte erzählen, glauben wir gern, dass es sich um Zeitzeugen handelt.
Dieses doppelte Spiel mit den Erwartungen hat ein ganzes Genre hervorgebracht: Die Mockumentary, ein Kofferwort aus den englischen Begriffen „to mock“ („vortäuschen“) und „documentary“, nutzt die Stilmittel der Reportage, um Nonsensgeschichten zu erzählen. Die Kunst dabei ist, diesen Nonsens konsistent und umfassend zu Ende zu erzählen – und ihn so nah an der Realität zu inszenieren, dass er noch glaubwürdig bleibt. Und dann kann man die Menschen sogar davon überzeugen, dass Nudeln an Bäumen wachsen, wie der britische Sender BBC seinen Zuschauern 1957 in einem Beitrag über die Spaghetti-Ernte im Schweizer Tessin weismachen wollte zu einer Zeit, als Pasta in englischen Küchen noch eine seltene Delikatesse war.
Am vielleicht konsequentesten durchgezogen wurde dieses Prinzip in „Kubrick, Nixon und der Mann im Mond“. Der Film legte 2002 offen, dass Präsident Richard Nixon die Mondlandung der US-Amerikaner von Stanley Kubrick in einem Filmstudio inszenieren ließ. Regisseur William Karel nimmt in „Kubrick, Nixon und der Mann im Mond“ gängige Verschwörungstheorien aufs Korn und präsentiert zahlreiche „Beweise“ für seine Thesen. Für ein Plus an Authentizität sorgen die Auftritte berühmter Politiker wie Henry Kissinger und Donald Rumsfeld. Am Ende ist der Kopf des Zuschauers derartig durchgepustet, dass er ernsthaft ins Zweifeln geraten kann. Erst nach dem Abspann, wenn die Interviewten im Gespräch mit dem Regisseur gezeigt werden, wird klar, dass alles nur inszeniert war.
Ein weiterer Genreklassiker ist „This is Spinal Tap“ von Rob Reiner (1984). Er begleitet eine Heavy-Metal-Gruppe auf ihrer US-Tournee, zeigt Backstageräume, Bühnenshows und Bandkrisen. So parodiert er das Musikbusiness mit seinen Ritualen, den Groupies, Tourmanagern – bis hin zum Namen Spın̈al Tap, der auf das Phänomen der Röck Döts, der dekorativen Umlautzeichen an frei gewählten Stellen in Metal-Bandnamen, verweist.
Eine Band steht auch im Mittelpunkt von „Fraktus“, der 2012 in die deutschen Kinos kam. Fraktus, das war die Band, die den Techno in Deutschland erst möglich gemacht hat und dann in den frühen 80er-Jahren plötzlich von der Bildfläche verschwand. Im Film macht sich ein Musikproduzent auf die Suche nach den drei Mitgliedern, die inzwischen als Optiker, Internetshop-Betreiber und Billigpop-Produzent ihr Geld verdienen, eine Existenz kaputter als die andere.
Das mockumentarisch Geniale an „Fraktus“ waren vor allem die Trailer, die für die Werbekampagne im Internet produziert wurden: Prominente Musiker wie HP Baxxter, Blixa Bargeld oder Daft Punk erzählten, wie Fraktus sie beeinflusst habe. Dazu kommen „Aufnahmen“ der jungen Fraktus, die die reduzierte Musik und die dadaistischen Texte der Neuen Deutschen Welle perfekt imitieren. Der Film selbst offenbart hingegen schnell, dass er keine Doku ist – nicht zuletzt, weil mit Devid Striesow die Rolle des Musikproduzenten recht prominent besetzt ist.
Auch der Horrorfilmklassiker „Blair Witch Project“ ist eine Art Mockumentary, schließlich gibt er vor, komplett aus dem Filmmaterial zu bestehen, das drei in den Wäldern Marylands verschollene Studenten für einen Dokumentarfilm über einen Hexenmythos gedreht haben. Und noch bekannter dürfte „Borat“ sein, der die Reise eines kasachischen Fernsehreporters durch die USA zeigt – auch wenn hier sicherlich kaum jemand beim Kinobesuch glaubte, dass Borat echt sei. Zu bekannt ist Sacha Baron Cohen, der Comedian dahinter.
Dies ist nur ein kleiner Einblick in die Vielfalt des Mockumentary-Genres, das so wunderbar mit Wahrheit, Medienkompetenz und Konventionen spielt und im besten Fall eine doppelte Parodie darstellt: auf die porträtierten Subkulturen, Länder, Menschen, Verhältnisse. Und auf die Filmemacher mit ihren oft so vorhersehbaren visuellen Codes.
Michael Brake arbeitet als freier Autor und Redakteur. Er beschreibt bevorzugt über Popkultur, Tiere und das Internet.