Sissel Tolaas hat eine abenteuerliche Mischung aus Chemie, Mathematik und Kunst studiert. Sie stammt aus Norwegen und lebt seit mehr als 20 Jahren in Berlin. Heute erforscht sie die Welt der Düfte und der Gerüche. Nicht um damit wohlriechende Parfums zu kreieren, sondern um die Möglichkeiten der Nase als sensibles Riechorgan und Kommunikationsinstrument auszuloten und die Welt für diesen vernachlässigten Sinn zu sensibilisieren. Dies tut sie mit dem Re_Search Lab. Sie legt Geruchsprofile von Großstädten an, und sie hat die Schuhe von David Beckham untersucht. Seit 1990 hat sie ein Geruchsarchiv angelegt, das aus über 7.000 spezifischen – in Blechdosen verpackten – Gerüchen besteht. Diese hat Tolaas in der ganzen Welt gesammelt und gleichzeitig ein Wörterbuch – NASALO genannt – entworfen, mit dem sie die Charakteristika bestimmter Gerüche objektiv beschreiben will. Das Wort FRE beispielsweise beschreibt den Geruch einer nassen und regnerischen Straße nach einem sonnigen Tag, FAFEES meint den Geruch von Fast Food und SUUL den einer alten Autobatterie. Mit Sissel Tolaas haben wir über den Geruch von Angst gesprochen.
Fluter.de: Haben Sie heute schon Angst gerochen, Frau Tolaas?
Sissel Tolaas: Nein. Sicher nicht. Aber ganz bestimmt meine Katze, die das viel besser kann. Sie kann riechen, wenn ich nervös und aufgeregt bin oder eben Angst habe.
Bei Menschen ist diese chemosensorische Gabe nicht vorhanden?
Wir haben nicht in dem Maße wie Tiere die Gabe, bestimmte psychische Zustände mit der Nase zu erfassen. Aber wir könnten unsere Nase besser nutzen, auch um Ängste zu erkennen. Stattdessen vernachlässigen wir unsere Nase und trainieren die entsprechenden Nerven nicht darauf, solche expliziten Gerüche wahrzunehmen. Sie ist ein vernachlässigtes Sinnesorgan. Unsere Gesellschaft verlangt diese Funktion, bestimmte Zustände über die Nase zu erkennen, ja auch nicht. Dabei ist das Riechen essenziell. Wir riechen selbst im Schlaf, und am Tag bewegen wir durch das Ein- und Ausatmen rund zwölf Kubikmeter Luft. Wir nehmen ständig Moleküle als Informationen auf, die unseren Körper regelrecht fluten und dabei auch durch unser Gehirn gehen und Reaktionen auslösen. Bei uns geht das meistens über das Hören und Sehen und eben nicht über die Nase. Es geht vor allem darum, wie man aussieht. Danach beurteilen wir Situationen – und nicht unbedingt nach dem Geruch.
Hat die Evolution denn unsere Fähigkeiten des Riechens zurückgeschraubt, weil Augen und Ohren wichtiger waren, um Gefahren zu erkennen?
Nein. Die Fähigkeiten der Nase sind ja da. Die Nase ist eine immens wichtige Hardware, die uns die Natur nicht zum Spaß gegeben hat. Mit der Nase sucht man seinen Partner und Essen. Das ist für unser Überleben essenziell. Aber in unserer Gesellschaft ist die Nase ansonsten recht unterfordert. Wenn eine Nase trainiert ist, kann sie die psychologischen Zustände des Gegenübers einordnen. So eben auch, wenn jemand Angst hat. Deswegen arbeite ich ja auch viel mit Kindern. Deren Riechfähigkeiten sind noch viel unverbrauchter und ungeprägter.
2005 haben Sie sich für ein Projekt intensiv mit dem Geruch der Angst beschäftigt. Um was ging es da genau?
Das war ein Auftrag des MIT, des Massachusetts Institute of Technology. Der Hintergrund war die Regierungszeit von Präsident Bush, in der Angst, Paranoia und Terror in den USA eine immens große Rolle spielten. Mich interessierte die Frage, ob ich Angstzustände von Personen riechen kann. Dazu lernte ich weltweit zahlreiche Psychologen und Psychiater kennen, die mich mit Menschen aus Asien, Südafrika, Europa oder Südamerika bekannt machten, die an den unterschiedlichsten Phobien vor Menschen litten. Bei Angstanfällen haben diese Patienten ihren Schweiß mit speziellen Geräten für mich eingefangen und mir die Proben geschickt. Die Moleküle habe ich chemisch analysiert und sie schließlich synthetisch als Öl reproduziert. Die synthetischen Geruchsmoleküle wurden dann in Mikrokapseln eingepackt, damit ich sie an die Wand streichen konnte. Die Sammlung dieser Angstgerüche wurde 2006 beim MIT ausgestellt und ist dann durch die Welt gereist. Die Ausstellungsbesucher konnten dann an der Wand drücken, um die einzelnen Geruchsmoleküle freizusetzen. Nur dann konnte man sie riechen.
Und das waren Angstgerüche?
Die Gerüche stammten von Leuten, die beispielsweise Angst vor Menschenmassen hatten, vor Übergriffen. Aber das waren natürlich alles krankhafte Extreme – von Menschen, die an ihren Ängsten litten.
Und diese unterschiedlichen Angstzustände konnte man riechen?
Man riecht vor allem den typischen Angstschweiß, der durch das vegetative Nervensystem ausgelöst wird. Höherer Blutdruck, Ausschüttung von Eiweißen, Fettsäuren, Cholesterin, Harnstoff. Wenn sich die Bakterien auf der Haut über den Schweiß hermachen, beginnt es zu riechen. Unter anderem durch die Buttersäure, die entsteht. Es ging aber nicht darum, eine bestimmte Angst zu riechen und zu identifizieren, sondern um die Frage, ob man den „state of mind“ einer Person generell riechen kann. Die ausgestellten Gerüche waren extrem. Sie werden natürlich auch von Essgewohnheiten beeinträchtigt, von der Kleidung, die man trägt, wie auch durch situative Momente. Ein schwuler Südkoreaner beispielsweise besuchte gern Sadomaso-Clubs, was ihn in extreme Aufregungs- und Angstzustände versetzte. Dabei trug er einen Gummianzug. Ich habe mit ihm so einen Club besucht. Und man kann sich vorstellen, was für ein krasser Schweißgeruch durch all diese Einflüsse entstand.
Und die Reaktionen der Ausstellungsbesucher?
Die waren wie die Gerüche: extrem und intensiv. Es gab Erregung, Übelkeit und Würgereize, klar. Denn solche Gerüche sind schwer zu ertragen. Aber es waren auch sehr interessante Reaktionen zu beobachten. In Seoul bei der Ausstellung gab es einen 90-jährigen Südkoreaner, der Soldat im Koreakrieg gewesen war. Einer der Gerüche erinnerte ihn an den Krieg und die Nähe zu seinen schwitzenden Kameraden; er begann furchtbar zu weinen. Ich habe ihm auf seine Bitte ein wenig von diesem Angstschweiß geschickt, wofür er sehr dankbar war. In Schanghai und Beijing küssten die Besucher die Wände. Was natürlich auch mit den Gewohnheiten in den verschiedenen Ländern zu tun hat. In den USA ist Körperschweiß ja mehr oder weniger tabu. In Südostasien kann man gar nicht genug davon bekommen, weil die Körper dort kaum Schweiß produzieren. Schweißgeruch bedeutet dort Aufregung.
Sie haben gerade vom Geruch des Krieges gesprochen. Für eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums in Dresden haben Sie auch den Geruch auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges reproduziert.
Normalerweise habe ich ja Proben für meine Arbeit, was hier nicht möglich war. Da musste ich mir die Gerüche aus Aufzeichnungen von Zeitzeugen holen und aus Gesprächen mit Militärexperten und Generälen. So entstand ein Geruch, der sich aus verbranntem Fleisch, verwesenden Menschen- oder Tierkörpern, Knochen, Exkrementen, Schwarzpulver, Gas, Blut, nasser, matschiger Erde und Angstschweiß zusammensetzte.
Klingt beängstigend.
Ja, der Geruch war wirklich abscheulich. Aber er sollte ja einen dokumentarischen Charakter haben. Aber noch mal: In meiner Arbeit geht es nicht nur um den Geruch der Angst. Es geht darum, die Nase in der Zukunft besser als Kommunikationsmittel und Navigator einzusetzen. Gerüche sind Informationen. Bei einem Brand riecht man die Gefahr eher, als man sie sieht. Man sollte sich mehr auf seine Nase verlassen. Vielleicht müssen wir in Zukunft gar nichts mehr sagen, wenn wir riechen können, was ein Mensch in einer bestimmten Situation fühlt und wir intuitiv wissen, wie wir adäquat reagieren können. Wissenschaftlich ist ja bereits nachgewiesen, dass bestimmte Angstzustände wie die Prüfungsangst beim Gegenüber allein durch das unbewusste Riechen Mitleid auslösen können.
Auf einer Party haben Sie mal statt eines üblichen Parfums einen Ihrer „Angst-Düfte“ aufgelegt. Wie waren die Reaktionen?
Erstaunlich: Die Frauen hielten Abstand zu mir, und die Männer wollten nicht mehr von mir weichen.
Eine andere Ihrer Arbeiten nennt sich „Smell Projects“. Worum geht es da?
In diesen City-Projekten sensibilisiere ich Menschen für die Gerüche der Städte, in denen sie leben. Für Mexiko City beispielsweise habe ich Gerüche aus 210 Bezirken gesammelt. In diesen dominierte der Gestank von Verschmutzung und Smog, der den Leuten zu verstehen gab, wie viel Dreck das Autofahren verursacht. Ein anderes Beispiel sind Metro-Stationen, die interessant riechen, weil die Gerüche von Reinigungsmitteln, Dreck und den Tausenden Menschen stammen, die die Stationen Tag für Tag passieren. Wenn Menschen ihre Nasen bewusst benutzen, verstehen sie, warum ihre Umgebung so riecht, wie sie riecht. Das kann mitunter zu Veränderungen des eigenen Handelns führen, wenn man zum Beispiel als Konsequenz weniger Auto fährt und somit weniger Dreck verursacht.
Beschäftigen Sie sich im Moment auch mit dem Geruch von Angst?
Nein. Eher mit den Gerüchen des Glücks. Diese schlimmen Zeiten verlangen einfach nach mehr Glück.