Wenn nicht die bunt angemalten Kolonialgebäude wären, könnte das hier auch Williamsburg in Brooklyn, Berlin-Mitte, London-Shoreditch oder irgendein anderes universelles Hipsterparadies sein, wo junge Menschen durch die Boutiquen flanieren, auf dem Foodmarket selbst gemachte Tacos oder Burger essen, Craftbier trinken oder einen Bio-Caffè-Latte. Aber dies ist nicht Williamsburg oder Berlin-Mitte, dies ist Johannesburg-Braamfontein.

Vor 30 Jahren wäre hier niemand darauf gekommen, sich mit anderen Weltstädten zu vergleichen. Man hätte sofort gewusst, dass man in einem weltweit geächteten Land der Rassentrennung lebt – mit wenigen wohlhabenden Weißen und vielen armen Schwarzen. Unter dem Apartheidregime hätte man in Braamfontein kaum Schwarze gesehen, es sei denn als Kellner oder Müllmänner. Es war für weiße Südafrikaner reserviert, die Schwarzen lebten in den heruntergekommenen Townships am Stadtrand – in den sich endlos hinziehenden Siedlungen voller Wellblechhütten, oft mit mangelhafter Strom- und Wasserversorgung. 

Die Apartheid bedeutete Rassentrennung auf allen Ebenen: am Strand, im Büro, im Bus und auch im Bildungssektor. Der Bantu Education Act hatte zum Ziel, die schwarze Bevölkerung auf einem niedrigen Bildungsstand zu halten und sie als Niedriglöhnerheer für die Weißen arbeiten zu lassen.

Erst nach der Abschaffung der Apartheid 1994 fanden erstmals demokratische Wahlen statt, aus denen der Freiheitsheld Nelson Mandela und der lange verbotene African National Congress als Sieger hervorgingen. Nicht nur Braamfontein wurde in der Folge ein Sinnbild des Aufschwungs, als weiteres Symbol errichtete man in der Stadt eine große Stahlbrücke, die man nach Mandela benannte.

Sinayo Mkhize kam vor acht Jahren nach Johannesburg, seitdem kann sie sich von ihrem Balkon im fünften Stock eines älteren Apartmenthauses aus die Veränderungen ansehen. Wie so viele Südafrikaner ist sie vom Land in die Großstadt gezogen, um hier ein besseres Leben zu finden, ein Leben mit einem Job, der ihr Spaß macht, und bescheidenen Wohlstand. Und wie bei so vielen Südafrikanern ist daraus nichts geworden.

„Das Leben ist sehr schnell hier“, sagt die 25-Jährige, die in einer großen Familie in der Provinz KwaZulu-Natal aufwuchs. 2008 schloss sie dort die Highschool ab, dann zog sie nach Johannesburg, das in der isiZulu-Sprache eGoli heißt: goldener Ort.

Den gibt es auch, es sind wohl die Straßen, an denen die modernen Wolkenkratzer aus Stahl und Glas stehen, aber es gibt auch die Orte, die nicht glänzen. Heruntergekommene Viertel und eben die Townships, einst Symbol für die Härten der Rassentrennung, heute für die Ungleichheit im Land am Kap: Von den über 54 Millionen Südafrikanern leben heute immer noch viele in Armut – trotz des Rohstoffreichtums und einer Volkswirtschaft, die nach Nigeria die zweitgrößte des Kontinents ist. Rund 25 Prozent der jungen Südafrikaner haben keine Arbeit, viele werden im täglichen Überlebenskampf kriminell. Über 17.000 Menschen wurden 2015 ermordet, dazu kamen rund 130.000 Raubüberfälle. Damit ist Südafrika eines der gefährlichsten Länder der Welt.

„Unsere Politiker haben keine Ahnung, wie man eine junge Generation in die Zukunft führt“, sagt Tessa Dooms, Leiterin des Youth Lab, eines Thinktanks, der sich um die junge Generation kümmert. „Die Regierung besteuert zum Beispiel Unternehmen, die keine jungen Menschen anstellen, aber das Pro-blem sind eher die Löhne. Die sind so gering, dass ein großer Teil davon schon für den Weg zur Arbeit ausgegeben wird.“

Ein anderes Problem ist nach wie vor der Zugang zu Bildung, der früheren Generationen schlichtweg verwehrt wurde. So arbeitete Sinayos Großmutter als junge Frau für eine deutsche Einwandererfamilie – als Dienstmädchen. Ihre Mutter konnte immerhin die Highschool besuchen und ergriff anschließend einen der wenigen Ausbildungsberufe, die Schwarzen erlaubt waren: Sie wurde Lehrerin. Mit dem Einkommen ihres Mannes, der in einem Township einen kleinen Lebensmittelladen hatte, kam die Familie ganz gut über die Runden. Sie konnten ihre Kinder zur Schule schicken, und als Südafrika endlich die Apartheid hinter sich ließ, ermutigten sie sie, ihre Träume wahr werden zu lassen. Sinayos Traum war es, zu studieren und PR-Managerin zu werden.

Acht Jahre später ist der Traum noch immer nicht Wirklichkeit geworden. Weil ihre Eltern früh starben, zog sie zu einem Onkel. Als Älteste musste sie dazuverdienen, um wenigstens ihren jüngeren Cousins und Cousinen die Uni zu ermöglichen. „Ich musste mich opfern“, sagt sie. „Es tat weh, aber ich habe es verstanden.“ 

Sie selbst fing auch mit ihrem Studium an, doch weil sie nebenher arbeiten musste, zog es sich in die Länge. „Eigentlich dauert es drei Jahre, aber ich bin schon seit sechs Jahren dabei und immer noch nicht fertig“, sagt sie. Momentan kann sie die jährliche Gebühr von 2.000 Euro nicht mehr bezahlen.

Damit ist sie nicht die Einzige. Im Oktober vergangenen Jahres gingen Tausende Studenten auf die Straße, um gegen die Erhöhung der Studiengebühren zu demonstrieren. Sie marschierten zum Sitz des regierenden ANC in Pretoria, einige stürmten sogar das Parlament. Die Protestbewegung unter dem Motto #FeesMustFall erinnerte an die großen Studentenunruhen von 1976, als Afrikaans, die Sprache der Buren, an den Unis verbindliche Unterrichtssprache werden sollte. Zu der Zeit investierte die Regierung in die Bildung eines weißen Kindes 16-mal mehr als in die eines schwarzen. 

Heute sind immerhin sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Bildung reserviert, das sind rund 17 Milliarden Euro. Viel Geld, aber nicht, wenn es immer noch darum geht, aus Lehmhäusern richtige Schulgebäude zu machen, alte Bücher aus Zeiten der Apartheid zu ersetzen und mehr Lehrer einzustellen. Um das alles zu finanzieren, will die Regierung an den Studiengebühren festhalten, weswegen es weiterhin Proteste geben wird. Zur angespannten Lage trägt auch bei, dass gegen viele ANC-Mitglieder wegen des Verdachts der Korruption und Steuerhinterziehung ermittelt wird. Staatspräsident Jacob Zuma werfen  Kritiker vor, die Ideale des Befreiungskampfes der Gier nach persönlichem Reichtum geopfert zu haben. „Es gibt ganz offensichtlich zwei Südafrikas“, sagt Tessa Dooms vom Youth Lab. „In dem einen leben eine weiße Minderheit und eine schwarze Elite gut versorgt, in dem anderen ist eine schwarze Mehrheit zur Armut verdammt.“ 

Sinayo hat die Hoffnung aufgegeben, dass sich ihr Leben durch politische Maßnahmen zum Besseren wendet. Sie will nun Geld sparen, um von Johannesburg nach Pretoria zu ziehen und dort an der einjährigen Lehrerausbildung teilnehmen. „Man muss dranbleiben“, sagt sie. „Denn wenn man aufgibt, ist niemand da, der sich um einen kümmert.“