Sie sieht an sich runter und dann zum Fenster. Da ist der Vorhang mit den Punkten und ab und zu der Wind, der ihn an ihr Bett bläst. „Warm draußen, ja“, sagt die Frau, als falle ihr mit dem Luftzug wieder ein, dass Sommer ist. Für Patienten wie sie, hat ihr Arzt gesagt, braucht die Erinnerung bloß einen Auslöser. Einen Knall. Den Geruch von Rauch. „Vergessen Sie meinen Namen“, hat die Frau gesagt, „schreiben Sie einen anderen in Ihren Text.“ Maja Rosic vielleicht.
Maja Rosic flüstert Sätze, die geschrien werden müssten: „Für die Zukunft ist gerade keine Zeit.“ Wie sie aussah nach jenem Tag im April? „Wie eine Mondlandschaft.“ „Löcher überall.“ Sie hatte es schön haben wollen für die Kinder, es wurde doch Frühling, endlich. Maja Rosic ging durch den Garten und wischte die Ecken im Gartenhaus. Sie reckte sich nach den Spinnweben, bis es sie müde machte. Richtig müde. Dann war sie wohl eingeschlafen. Sie griff nach den Zigaretten, als sie wach wurde. Sie roch Gas. Sie dachte: Die Propangasflaschen. Es klickte. Explodierte. Sie rannte. Raus. Feuer. Wasser. Sie löschte. Sie brannte. Sie fiel.
Maja Rosics Nägel sind jetzt verkrustet, die Lider hängen, ihre Haut ist wie Leder, rot, blau, adrig, die blonden Haare, sie trug sie schulterlang, sind jetzt dunkel und kurz. Ihre linke Hand ist eingewickelt, größer als ein Kuchenteller. Auf Station B2, Unfallkrankenhaus Berlin, nimmt Simon Kuepper, ihr Arzt, der Oberarzt, den Verband ab und befühlt den Schwamm darunter. „Durch den thermischen Schaden“, er zeigt auf ihre rechte Hand – die unoperierte, gekrümmte –, „ist die Handinnenfläche verbrannt. Die Narbenstränge ziehen die Finger in eine solche Stellung. Aber schauen Sie, fühlen Sie“, er nimmt die operierte Hand, die in dem Schwamm: „Die ist schon ganz anders.“ Beweglich und ein wenig weicher. Daran, dass Maja Rosic wieder „einen Griff ausführen“ kann, arbeiten sie.
41 ist Maja Rosic. Sie wirkte immer jünger als ihre Schwester, die Ende 20 ist. Nun krallt sie ihr Smartphone, scrollt mit Fingerresten durch Erinnerungen. Das da war sie: glattes Gesicht, feine Züge. Aber nun ist es so: „Was passiert, passiert“, und auch wenn sie weint: Sie freut sich auf zu Hause, sie will wieder Familie, ein eigenes Zimmer, eigenes Essen. Karten spielen.
Simon Kuepper, der Oberarzt, hat einen Hang zum Extremsport. Er fährt Motocross, Snowboard, Wakeboard und hat erst den Schockraum gezeigt, in den Brandverletzte eingeliefert werden, wenn sie im Unfallkrankenhaus ankommen. Helikopter. Rettungsstelle. Liege. Übergabe. Im Schockraum klebt die Hose, als steige man in Kambodscha aus dem Flugzeug: 28 Grad, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Patienten dürfen nicht auskühlen, während hier beatmet wird, Ruß und Schmutz müssen von der Haut entfernt, die Blasen gereinigt werden. Vielleicht schneiden sie schon – dort, wo der Schorf die Wunden schließt. „Escharotomie“ heißt das: Im Zickzack wird er durchtrennt, um dem inneren Gewebedruck nachzugeben. Es heißt, man könne sich das vorstellen wie bei einem Braten, von dem man ein Stück Schwarte abschneidet.
Kuepper ist 40 und wusste, er würde plastischer Chirurg, Unfallchirurg, als er in einer Vorlesung hörte, dass sich mit Zehen Hände wiederherstellen lassen. Er ist jetzt „eingeschleust“ in E0, hat seine weißen Kleider gegen mintgrüne getauscht, eine Haube auf, er steht in der Intensivstation des Schwerbrand-verletztenzentrums und zählt Schicksale auf. 277 im vergan-genen Jahr. Kriegsopfer aus Syrien. Selbstmordattentäter aus Libyen. Ein Kind, das auf einen Zugwaggon geklettert ist und dort einen Stromschlag erlitten hat, 15.000 Volt.
Er bindet sich den Mundschutz um und tritt durch die Schiebetür in eine „Box“: einen Behandlungsraum, in dem, wie jeden Vormittag, über grob drei Stunden der Verband eines Schwerverletzten gewechselt wird. „Hoher Sturz“, sagt Kuepper, es riecht nach Sagrotan, das Tuch auf der Brust des Mannes färbt sich dunkel, „… Geräte für Kreislauf“, „… für Urinausscheidung“, „… Creme, die Jod enthält“, rechts auf dem Regal steht ein gerahmtes Familienfoto. „Monitor für Herzfrequenz.“ „Widerstände in den Gefäßen.“ „Ernährungsschlauch.“ „Geht’s?“ – „Der Entzug von den Medikamenten. Letztendlich sind das Drogen.“ Bei dem Eingelieferten sind beide Lungen kollabiert, es gibt Frakturen der Wirbelsäule, 35 Prozent verbrannte Körperoberfläche. Im Radio läuft „Love Is a Battlefield“.
Von „Entbehrung“ redet Simon Kuepper, als er ausgeschleust ist, wieder einen weißen Kittel trägt, von „Belastung“ und den Silvesternächten. Davon, dass „die Dummheit des Menschen schier grenzenlos“ sein kann, und er sich manchmal fragt, wie lange er das noch macht. Nein, er schlafe nicht genug. Um 14 Uhr ist er erneut eingeschleust, er hat sich „eingewaschen“ und operiert. Ein Raum, der außerirdisch scheint, mit den Strahlern, die von der Decke ragen, den Maschinen, Schläuchen, Drähten und Steckdosen, den Latexhandschuhen, die man aus Schachteln an der Wand ziehen kann. Das Telefon klingelt. „Na toll. Da spritzt's“, sagt eine der Ärztinnen, die um den Operationstisch stehen; auf fleckigem Linoleumboden und vor einem Patienten, der auf dem Bauch liegt – „Spalthauttransplantation“: Ihm wird Haut vom Rücken geschabt, die auf seine Schenkel soll. „MS-Patient“, sagt Kuepper, „Multiple Sklerose.“ Seine Freunde haben ihm ein Benzinfeuerzeug geschenkt, ein Zippo, kennen Sie? „Die haben keinen Verschluss. Es ist ihm in den Schoß gefallen.“
Mit einem Messer wird die Haut abgetragen. Rote Rinnsale fließen über Poren und Haare, bis Tücher alles Flüssige aufsaugen, sich Stoff mit Blut tränkt. Dünne Hautfetzen landen in Silberschalen neben Scheren und Pinzetten. „Die Fetzen müssen gedehnt und durch die Walze gedreht werden, vergleichbar mit einer Nudelmaschine. Die Bilder, die man an diesen Orten aufhängt: Wüstenlandschaften und Nahaufnahmen von Insekten. Bilder gegen die Bilder in den Köpfen. Bilder, die beruhigen.
Annabelle Seubert, Jahrgang 1985, hat an der Berliner Akademie der Künste Kulturjournalismus studiert und arbeitet seit 2011 bei der taz.