Dieser Text wurde unter dem Einfluss von Drogen geschrieben. Ich dachte, ich erwähne das gleich zu Beginn des Artikels, denn ich bin der Meinung, dass Konsumenten das Recht haben, zu erfahren, unter welchen Bedingungen das Produkt entstanden ist, das ihnen angeboten wird. Wenn ich mir ein neues Paar Turnschuhe kaufe, dann möchte ich ja schließlich auch wissen, ob die Kunststoffe und Klebstoffe von minderjährigen Sklavenarbeitern zusammengefügt wurden oder ob das schicke Smartphone vielleicht einem schmuddeligen Sweatshop entstammt.

Also: Ich habe zwar keinen Alkohol getrunken, nicht gekifft und auch kein Kokain konsumiert. Und doch arbeitet mein Gehirn nicht nur mit eigener Kraft. Um zehn Uhr morgens habe ich 100 Milligramm Modafinil (in den USA: Provigil) eingenommen, ein Medikament, das bei Sekundenschlaf verschrieben wird, das aber genau wie das Amphetaminderivat Ritalin (das man auch in Deutschland Kindern verabreicht, die am Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS leiden) auch von gesunden Menschen eingenommen wird, um Müdigkeit zu vertreiben und die kognitive Leistungsfähigkeit zu steigern. Smart Pills, Klugmacher, nennt man diese Substanzen auch, und sie erinnern mich an die mythischen Medikamente der Science-Fiction-Literatur, mit deren Hilfe man in Sekunden neue Sprachen lernt oder seinen IQ um den Faktor 1.000 steigert.

Der Umsatz mit Provigil stieg in den USA zwischen 2002 und 2008 von 196 Millionen auf 988 Millionen Dollar. Von einer globalen Narkolepsie- Epidemie hat man aber gar nichts gehört, und so liegt der Verdacht nahe, dass die Steigerung vor allem durch den sogenannten Off-Label-Use zustande kommt, den nicht angezeigten Gebrauch, und das, obwohl die langfristigen Folgen des Provigil- Konsums nicht ausreichend untersucht sind und die Krankenversicherung nicht zahlt. Die erhöhte Nachfrage entsteht durch gesunde Menschen, die sicherstellen wollen, dass sie in der Welt auch funktionieren – ehrgeizige Eltern, die ihren Kindern durch eine Top-Ausbildung zu einem Maximum an Lebenschancen verhelfen wollen, oder gestresste Führungskräfte, die drei Deals gleichzeitig managen müssen.

Das Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlichte im April 2008 eine Umfrage unter seinen Lesern. Danach gaben mehr als 20 Prozent der Befragten an, bereits „Drogen für nicht-medizinische Zwecke genommen zu haben, um Konzentration, Das Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlichte im April 2008 eine Umfrage unter seinen Lesern. Danach gaben mehr als 20 Prozent der Befragten an, bereits „Drogen für nicht-medizinische Zwecke genommen zu haben, um Konzentration, Fokus und Erinnerungsfähigkeit zu steigern“. Und der deutsche Psychiater Klaus Lieb, der an der Universität Mainz forscht und das Buch „Hirn-Doping“ geschrieben hat, ist durch eine Studie unter 1.500 deutschen Schülern und Studenten zu dem Schluss gekommen, dass zwar nur rund vier Prozent Erfahrungen mit solchen „Neuro- Enhancern“ (Enhancement steht für Steigerung) gemacht haben – dass aber mehr als 80 Prozent gerne mal so eine Pille einnehmen würden.

Eine einfache Internet-Suche mit den Begriffen „Modafinil“ und „Mail-Order“ ergibt mehr als 150.000 Treffer: Ich stoße auf unzählige Internet- Apotheken mit klingenden Namen, die ihren Firmensitz vermutlich auf karibischen Inseln haben und denen die Farbe der Kreditkarte wichtiger ist als ein Stempel auf dem Rezept. Eine Packung mit 100 Pillen à 200 Milligramm kostet hier rund 100 Dollar. Lieferzeit 8 bis 14 Tage. Credit card required. Modafinil (in Deutschland: Vigil) kann man sich aber auch von seinem Hausarzt verschreiben lassen. Während der Hersteller Cephalon das Medikament zu Beginn nur für Narkolepsie-Patienten produzierte, so hat er nun den Anwendungsbereich und die Zielgruppe erweitert, sodass jetzt auch Schlafstörungen, hervorgerufen durch Jetlag und Schichtarbeit, damit behandelt werden. Da ich regelmäßig in den USA arbeite und viel im Flugzeug sitze, ist es kein Problem, ein Rezept zu erhalten. Spektakulär, denke ich mir, als ich zur Apotheke gehe und für 80 Euro eine blau-weiße Schachtel mit 20 Tabletten à 100 Milligramm erstehe, mein Arbeitsleben ist von strengen Behörden wie der amerikanischen Food and Drug Administration als Krankheitsbild anerkannt. Wo ist die Gewerkschaft, wenn man sie braucht?

Ich lese den Beipackzettel: Herzrasen, Leberfunktionsanomalien, epileptische Anfälle, Angst. Klingt schlimm, solange man den Waschzettel von Allerweltsmedikamenten wie Aspirin noch nicht gelesen hat. Die Pille liegt wie ein weißes Tic-Tac vor mir auf dem Schreibtisch. Schnell schlucke ich sie hinunter. Ich stelle mir vor, wie sich die Pille im Magen auflöst, wie die Moleküle mit hoher Geschwindigkeit durch die engen Gefäße rasen, bis sie irgendwann die Blut-Hirn-Schranke überschreiten – eine kleine Armee von Roboter-Molekülen, die da oben mal so richtig aufräumen.

Die Modedroge der achtziger Jahre war Kokain, das zu dem Größenwahn und der Gier der Wall-Street-Banker passte und mit dem sich auch der letzte Verlierer als Master of the Universe fühlen konnte. Die Neunziger waren ohne Grund und mit ziemlich viel Ecstasy vergleichsweise gut gelaunt. Im frühen 21. Jahrhundert aber geht es nicht mehr darum, die Wahrnehmung zu verändern oder in eine andere Wirklichkeit zu fliehen, sondern mithilfe gewisser Substanzen in der realen Welt wirksamer zu werden. Modafinil ist die Droge der Workaholics. „Go-Pille“ heißt Modafinil bei den Jetpiloten der US Air Force. Seit Jahren empfiehlt das US-Militär seinen Soldaten, die Droge vor langwierigen und stressigen Einsätzen einzunehmen. Und haben die Angestellten der Unternehmen der High-Tech- und High-Speed-Branche des 21. Jahrhunderts nicht eine ähnliche Arbeitsintensität wie Fighter-Piloten? Das Fachmagazin „Techcrunch“ bezeichnete Modafinil schon 2008 als die beliebteste Droge des Silicon Valley, mit der die Unternehmer ihre 20-Stunden-Arbeitstage durchstehen. Wir sind alle Jetpiloten!

15 Minuten nach der Einnahme des Medikaments merke ich, dass ich nichts merke – das heißt: Irgendetwas ist da doch. Ein leises Kribbeln hinter der Netzhaut, ein leichtes Ziehen in der Gesichtshaut und im Kiefer. Ich bin nicht betäubt und auch nicht druff, aber ich bin ganz sicher anders – nicht high, sondern eher: „into it“. Ich bemerke, dass sich meine Finger auf der Tastatur schneller und zielgerichteter bewegen. Das künstliche Klack, Klack, Klack, das den Maschinenlärm, das Hämmern und Schnaufen als Sound der Weltwirtschaft ersetzt hat. Ja, fast könnte man sagen, ich fühle mich ein wenig aggressiv. Ich fühle einen diffusen Tatendrang. In meinem Leben gibt es oft Arbeitstage, an denen ich bis 12 oder 13 Uhr nichts mache außer E-Mails zu schreiben, Politik-Blogs zu lesen und den europäischen Fußball-Transfermarkt in Echtzeit zu beobachten. Auf Modafinil ist dies anders: In vier Stunden blicke ich kaum einmal zur Seite und schreibe ein zehnseitiges Konzeptpapier. Als ich am nächsten Tag das Konzept noch mal lese, kann ich keine Spuren von drogeninduzierter Euphorie oder Hybris erkennen. Das hat alles Hand und Fuß. Genial ist es jedoch auch nicht.

Modafinil hält Menschen nicht nur länger wach, sondern macht sie angeblich auch schlauer und schneller. In einer Studie, die im Jahr 2002 an der Universität Cambridge durchgeführt wurde, gaben Neuropsychologen ihren ausgeschlafenen Testpersonen eine Dosis der Droge. Die Probanden mussten zum Beispiel eine Reihe von visuellen Mustern erkennen, die auf einem Computerbildschirm angezeigt wurden. Die Teilnehmer mit Psychopharmakon-Unterstützung schlugen sich wesentlich besser als die nüchterne Vergleichsgruppe. 2006 kamen kalifornische Forscher in einer ähnlichen Studie zu dem Ergebnis, dass Modafinil nachweislich „Aufmerksamkeit, kognitive Kontrolle und Kurzzeitgedächtnis bei einer beliebigen Aufgabe verbessert“.

Der IQ allerdings steigt nicht. Die Substanz, so scheint mir, ermöglicht einen stetigen, kontinuierlichen, verlässlichen Output und Workflow. Allerdings, das merke ich an Tag zwei der Testreihe, sollte man auf jeden Fall auch den Willen aufbringen, eine Aufgabe zu lösen. Sonst verbringt man die Nacht damit, seine CD-Sammlung auf eine ziemlich spezielle Art und Weise zu ordnen. Von A bis Z statt nach Genre. Denn, auch das eine Beobachtung, unter Modafinil-Einfluss liegt mir schematisches, roboterhaftes Arbeiten mehr denn konzeptionelles Denken und ergebnisoffene Experimente. Ich neige dazu, mich in Quellen zu verlieren, und für einen Gedanken, den man in einem Absatz formulieren könnte, eine ganze Seite Text aufzuwenden. Ich betrachte die Welt durch einen Tunnel.

Kein Wunder, dass ich gewisse Querverbindungen und Abkürzungen übersehe. Die Smart Pills machen den Menschen nicht klüger. Wenn die Wirkung nachlässt, bleiben keine neuen Synapsenverbindungen und schnelle Gedanken-Highways – höchstens ein leises Sehnen nach dem nächsten Energieschub und der Klarheit des Tunnels (die Frage nach der Suchtgefahr ist übrigens nicht abschließend geklärt). Aber vielleicht sollte man eher sagen: Noch leisten die Neuro-Enhancer das nicht. In den Laboren arbeitet man längst an der nächsten Generation der Smart Pills. Große Hoffnungen setzt man auf sogenannte Ampakine und Cholinesterase- Hemmer, die als Medikament gegen degenerative Hirnerkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson eingesetzt werden.

Die Pillen steigern nicht die Qualität des Denkens – bloß seine Quantität

Die Verbreitung von Neuro-Enhancern scheint durch den liberalisierten Medikamentenmarkt und den Leistungsdruck der Wissensgesellschaft kaum mehr aufzuhalten. Die Neuropsychologin Prof. Barbara Sahakian von der Cambridge University, die sich seit Jahren mit dem Phänomen auseinandersetzt, meint: „Der Drang, mit Medikamenten sein Hirn zu stärken, ist möglicherweise noch stärker als der, seiner Schönheit oder der Potenz künstlich nachzuhelfen.“ Nach Botox, Viagra und Prozac wird Modafinil womöglich zum nächsten pharmakologischen Beststeller – obwohl Experten bereits warnen, dass die Langzeitschädigungen denen von Speed und Koks gleichkommen könnten. Die Entscheidung, ob man das Risiko eingeht, ein nicht zugelassenes Medikament zu nehmen, liegt beim sogenannten aufgeklärten Konsumenten unserer Zeit.

Neben dem „individuellen Risiko“ haben die Smart Pills natürlich auch Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt. Studenten beschweren sich, dass ihre Kommilitonen vor der Klausur eine Pille nehmen und so bessere Noten schreiben. Und was soll ein Arbeitnehmer sagen, der bemerkt, dass ein Kollege mithilfe von Smart Pills eine 18-Stunden-Schicht nach der anderen schiebt, während er selbst sich vom Chef fragen lassen muss, warum seine Produktivität dagegen so abfällt? Entsteht so nicht ein Druck, ebenfalls mit den Substanzen zu experimentieren, auch wenn man das gar nicht will? Führt das nicht zu einem neurochemischen Rüstungswettlauf unter den Arbeitnehmern? Bevor nun aber die Ersten nach einem Verbot der Neuro-Enhancer und Smart Pills schreien, sollte man sich lieber Gedanken machen, was im frühen 21. Jahrhundert so von Schülern, Arbeitnehmern und Durchschnittspersonen erwartet wird.

Die klaren Tage sind vorbei. 20 Tabletten. 20 Tage. Ein leerer Schreibtisch. Und doch ist da ein gewisses Gefühl der Enttäuschung. Von Smart Pills erwartet man, dass man komplizierte Materie durchdringt, neue Zusammenhänge herstellt oder zumindest aufhört, immer die wichtigsten Informationen zu vergessen. Nichts von alldem leisten diese Substanzen (und man kann sich nicht einmal beschweren, man verwendet sie ja „off label“). Modafinil erhöht nicht die Qualität des Denkens, sondern die Quantität. Die Smart Pills sind in Wahrheit so etwas wie Work-Pills. Am Ende enthüllt das Neuro-Enhancement-Experiment einen recht unromantischen Blick auf das menschliche Denken, der in unserer Gesellschaft die Regel geworden ist und in dem es nicht um kreative Ideen oder gar Erkenntnis geht, sondern darum, ein Maximum an Lebenszeit in Geld zu verwandeln. Keine Ahnung, ob das ein besonders brillanter Gedanke ist, aber eines ist sicher: Diesen letzten Satz schreibe ich nüchtern und clean.