Die beiden Schwestern Mascha und Diana kommen aus der Ukraine und arbeiten in Berlin. Rund 1.000 Kilometer westlich ihrer Heimat putzen sie die Wohnungen deutscher Familien, pro Stunde verdienen sie zehn Euro. Beide sind Mitte 20 und legal in Deutschland – vermutlich mit einem Touristenvisum. So genau möchten sie das nicht sagen, auch ihren Nachnamen und den Namen ihres Dorfes in der Ukraine nennen sie nicht. Nur, dass es dort zu Hause zwei Kinder gibt, die noch recht klein sind. Während die Mütter Geld verdienen, wachsen Maschas und Dianas Töchter bei einer Tante auf.
Leiden sie unter der Trennung? Nein, beteuern beide, alles sei in Ordnung. Sie selbst kennen es nicht anders, auch ihre Mutter Kateryna pendelte als Putzfrau jahrelang zwischen Deutschland und der Ukraine.
Europa ist durchzogen von unsichtbaren Strömen: Menschen reisen ein, schuften, reisen wieder aus. Hunderttausende Männer und Frauen verlassen regelmäßig ihre Heimat in Osteuropa, um irgendwo weiter westlich als Pflegekraft, Erntehelfer oder Bauarbeiter Geld zu verdienen. Manche kommen nach ein paar Monaten wieder nach Hause, andere sind jahrelang im Ausland. Zurück bleiben die Kinder – in meist ärmlichen, manchmal auch schwierigen sozialen Verhältnissen. Denn nicht alle von ihnen haben das Glück, von einer funktionierenden Großfamilie betreut zu werden, während die Eltern im Ausland sind.
Das Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass es allein in der Ukraine rund 100.000 Straßenkinder gibt. Weitere 100.000 wohnen in staatlichen Heimen, obwohl ihre Eltern leben. Noch schlimmer ist die Situation der Kinder in der Republik Moldau. Dort wachsen schätzungsweise 250.000 Kinder als sogenannte Sozialwaisen auf. Sie haben zwar Eltern, aber die sind nicht da.
Viele davon arbeiten in Deutschland – nicht nur als Saisonarbeiter in den Weinbergen oder auf den Spargelfeldern, sondern auch als Betreuer: Weil die deutsche Bevölkerung stark altert, gibt es einen massiven Pflegenotstand. Wer seinen dementen oder bettlägerigen Verwandten nicht ins Heim geben will, braucht zu Hause eine 24-Stunden-Betreuung. Die aber ist für viele unbezahlbar.
Ein Ausweg ist oft, eine freundliche Polin zu engagieren, eine Rumänin, eine Bulgarin, eine Frau aus der Republik Moldau, die meist nicht mal 1.000 Euro im Monat verdient. Häufig ist sie nicht sozialversichert, ihr Arbeitsverhältnis vielfach illegal. Manchmal muss sie noch viel Geld für dubiose Arbeitsvermittler zahlen.
„Da ist ein riesiger Schwarzmarkt entstanden“, sagt Gernot Krauß, Osteuropa-Referent von Caritas international. Die Hilfsorganisation geht davon aus, dass mittlerweile 150.000 Osteuropäerinnen zumeist illegal in Deutschland als Pflegekräfte arbeiten. „Die meisten gehen in die private 24-Stunden-Pflege.“ Dabei ist dies eine physisch und psychisch anstrengende Arbeit, sie dauert Tag und Nacht, über viele Monate hinweg.
Bei einer 92-jährigen Dortmunderin, deren Familie auch lieber keine Details nennen möchte, wohnen die wechselnden polnischen Pflegerinnen zusammen mit der alten Dame in einer beengten 50-Quadratmeter-Wohnung. „Wenn man aus einer ländlichen Region kommt, wo es nichts gibt, keinerlei Möglichkeit Geld zu verdienen“, so Caritas-Mann Krauß, sei „quasi jede Arbeit lukrativ“.
Doch die Arbeitsmigration hat in den Herkunftsländern der Menschen nicht nur negative Seiten. Zwar hinterlassen vor allem die Frauen große Lücken, weil sie sich zu Hause nicht um ihre Kinder und ihre eigenen alten Verwandten kümmern können, aber es fließen auch große Summen zurück, die zur Lebensqualität beitragen. Die Wissenschaftlerin Anastasiya Ryabchuk von der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie hat das am Beispiel eines Dorfes in den Karpaten im Westen der Ukraine untersucht: Obwohl die Region wirtschaftlich nur schwach entwickelt ist, leben viele Frauen und Kinder in relativem Wohlstand. Sie wohnen in eigenen Häusern, kaufen Möbel, besitzen Autos. Finanziert wird das von abwesenden Vätern, die ihre Familien oft nur drei-, viermal im Jahr besuchen.
Immerhin gibt es heute Skype und Billigflieger – das macht es für alle ein wenig leichter
„In vielen Regionen der Welt sind die Einkünfte der Arbeitsmigranten die einzige Einnahmequelle“, sagt Katharina Bluhm, Professorin für Soziologie am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Die Migration zwischen Ost- und Westeuropa sei dabei nur ein kleines Puzzlestück einer viel größeren Bewegung. „Das ist ein globales Phänomen.“ Wissenschaftlich gut erforscht sind vor allem die „Global Care Chains“, die globalen Kinderbetreuungsketten: Wenn etwa Mütter von den Philippinen ihre Kinder zurücklassen, um den Nachwuchs der englischen Oberschicht zu betreuen. Damit wiederum diese Mütter, die meist zur hochqualifizierten Elite gehören, weiterhin voll berufstätig sein können.
Durch die verbesserten Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten sind manche Härten der weltweiten Arbeitsmigration in den letzten Jahrzehnten abgemildert worden. Über Skype können Familien zu den Kosten einer Internetverbindung zumindest Kontakt halten, Billigflüge ersetzen teils tagelange Zugfahrten und erleichtern zudem einen Wechsel des Arbeitsplatzes – je nachdem, wo es etwas zu tun gibt. „Früher ließen sich die Menschen meist für längere Zeit in einem fremden Land nieder, gingen oft erst nach Eintritt ins Rentenalter zurück in die Heimat“, sagt Soziologieprofessorin Bluhm. Heute gäbe es eine Art „Länderhopping“. Die sogenannten Transmigranten pendeln weltweit. Wenn es in einem Land keine Arbeit mehr gibt, gehen sie woandershin.
Beispiele dafür finden sich auch in Europa: Viele Rumänen zog es lange Zeit vor allem nach Spanien und Italien mit ihren bereits liberalisierten Arbeitsmärkten. Seit die südeuropäischen Länder selbst mit hoher Arbeitslosigkeit und schweren Wirtschaftskrisen zu kämpfen haben, kommen Osteuropäer vermehrt nach Deutschland. 194.000 rumänische Saisonarbeiter verzeichnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinem Migrationsbericht 2011.
Hajnalka Mátéffy kennt einige davon. Die 38-jährige Sozialarbeiterin leitet ein Bildungs- und Begegnungszentrum in der rumänischen Kleinstadt Cristuru Secuiesc in Siebenbürgen. „Die Frauen gehen meistens nur für einen oder zwei Monate, die Männer länger, bis zu sieben Monate.“ Das Fehlen der Männer wird von den Familien als das kleinere Übel betrachtet; die Mütter sind traditionell die wichtigeren familiären Bezugspersonen. Zudem entspricht es in vielen osteuropäischen Ländern nicht dem klassischen Rollenverständnis, dass Frauen allein ins Ausland gehen. Aus Kroatien, Slowenien, Ungarn und Bosnien-Herzegowina kommen laut Statistik des Migrationsberichts daher deutlich mehr Männer als Frauen zum Arbeiten nach Deutschland. Nur bei den Zuzügen aus der Ukraine und aus Russland sind die Frauen in der Mehrzahl.
Ganz in den Westen ziehen? Wo im Supermarkt das gespritzte Gemüse liegt? Gott bewahre
„Bei uns müssen die Frauen noch nicht auswandern“, sagt Mátéffy. Ob das so bleiben wird, weiß sie nicht. In Rumänien stagnieren die Löhne, während die Lebenshaltungskosten steigen. Ein Bekannter von ihr, Vater von fünf Kindern, fährt deshalb im Winter in Rumänien Taxi, den Rest des Jahres verdient er sein Geld im Westen in der Landwirtschaft. „Alle, die das machen, erzählen, dass das eine sehr harte Arbeit ist“, sagt Mátéffy. „Nach einigen Tagen tut einem alles weh.“ Die Männer und Frauen halten trotzdem durch. „Sie wollen das Geld.“
Vor allem aber wollen sie zurück in ihre Dörfer, um dort die Zukunft der Familie zu sichern. Denn bei aller wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit denken die Wenigsten an eine endgültige Umsiedlung. Wenn die Erntehelfer zurückkämen, so erzählt Mátéffy, dann erzählten sie Geschichten von mit Gift gespritztem und mit Farbstoffen nachbehandeltem Gemüse, das sie für deutsche Supermarktketten geerntet hätten. „Hier holen wir unsere Gurken aus dem Garten.“ Für ihre Kinder kann sie sich keine andere Umgebung vorstellen: „Schöne Landschaft, nette Menschen, sehr gutes Essen.“ In Deutschland, davon ist sie überzeugt, kann man lange nicht so gut leben.