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Darf’s noch etwas Gift sein?

Um gesundheitliche Schäden zu vermeiden, gibt es Grenzwerte. Zum Beispiel für Pestizide auf Obst und Gemüse. Über Risiken im Milligrammbereich

Für viele Menschen ist ein Sommer ohne Erdbeeren kaum vorstellbar. 3,8 Kilo Erdbeeren isst jede und jeder Deutsche durchschnittlich im Jahr – ziemlich viel dafür, dass die Früchte hierzulande außerhalb von Gewächshäusern nur zwischen Ende Mai und September reif sind. Daher stillen auch Importe den deutschen Erdbeerhunger: Fast 130.000 Tonnen wurden im Jahr 2021 importiert. Zu den weltweit führenden Exportländern von Erdbeeren zählen Spanien, Mexiko und die USA.

Für das Sommergefühl mag es nicht so wichtig sein, auf welchen Feldern die Erdbeeren geerntet wurden. Für die Risikoabschätzung aber schon: Drei Viertel der Erdbeeren wiesen im Jahr 2020 Mehrfachrückstände durch Pestizide auf. Das sind chemische Stoffe, die in der Landwirtschaft zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt werden – und den Menschen gefährlich werden können. Um zu vermeiden, dass Pestizide außer Käfern, Fliegen und Pilzen auch Konsumenten schaden, legt die EU Grenzwerte fest. Und hier fängt der Streit an: Umwelt- und Verbraucherschützer fordern weniger Gift auf dem Acker, viele Bauern dagegen weniger rigide Pestizidverbote. Wer hat nun recht?

Das Beispiel der Erdbeere zeigt, dass eine Antwort nicht leicht ist: Für die süßen Früchte sind Stand März 2022 etwa in Bayern 37 Fungizide, 22 Insektizide und 15 Herbizide zugelassen. Über die Zulassung entscheidet die EU-Kommission. Dafür stellen die Pestizidproduzenten einen Antrag auf Genehmigung eines neuen Produkts in der EU. Hierzu müssen zahlreiche Studien vorliegen, die die Gefährlichkeit des Stoffes in Tierversuchen, der Anbaupraxis und im Endprodukt untersuchen.

Wie über Grenzwerte gestritten wird

Was auf den ersten Blick nachvollziehbar klingt, wird schnell kompliziert. Das zeigt der Fall Flutianil. Das Fungizid wird eingesetzt, um Erdbeerpflanzen vor Pilzbefall durch Mehltau zu schützen. In der EU ist der Wirkstoff seit 2019 genehmigt, verwendet wird er bisher nur in Italien, Portugal und Deutschland – hierzulande allerdings nur als Produkt für Zierpflanzen in Gewächshäusern.

Im März gab die EU-Kommission bekannt, dass sie den Importgrenzwert für das Fungizid anheben wolle: Äpfel, Süßkirschen, Gurken, Zucchini und, ja, auch Erdbeeren aus den USA sollten künftig ein Vielfaches an Flutianil enthalten dürfen. Das japanische Unternehmen OAT Agrio Co. Ltd., das in den USA gute Geschäfte mit dem Fungizid macht, hatte den Antrag dafür gestellt. Nun soll mit der Anhebung der EU-Werte für Produkte aus den USA ein erster Schritt dahin gemacht werden, dass das Fungizid den europäischen Markt erobert. Die EU-Kommission spricht von der „Vermeidung von Handelshemmnissen“. Das bedeutet, dass der Verkauf von Waren zwischen den USA und der EU vereinfacht wird, wovon die Wirtschaft auf beiden Seiten profitieren soll.

Zwar wäre die in Europa zulässige Menge immer noch sehr gering – 0,3 Milligramm Flutianil pro einem Kilo US- Erdbeeren, bisher waren es 0,01 Milligramm –, allerdings hat der Stoff den Ruf, auch schon in geringen Mengen gesundheitsschädlich zu sein: Studien zeigen, dass sich Flutianil bereits in sehr kleinen Dosen auf das Hormonsystem von Lebewesen auswirken kann. Zudem wurde das Fungizid zwischenzeitlich als krebserregend, fortpflanzungshemmend und hormonell wirksam eingestuft. Diese Einstufung wurde 2016 trotz Kritik rückgängig gemacht, sodass der Stoff 2019 schließlich für die EU zugelassen wurde. Die diesjährige Ankündigung, den Grenzwert nun sogar noch erhöhen zu wollen, lehnte der Umweltausschuss des EU-Parlaments zunächst ab. Mehrere Parlamentarier hatten zudem Einspruch gegen den Vorstoß der Kommission eingelegt, allen voran die Pharmazeutin Jutta Paulus von den Grünen. „Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist doch: Wie wichtig ist es wirklich, Erdbeeren aus den USA in die EU zu importieren?“, sagt sie. Den Parlamentariern würden immer wieder Grenzwertanhebungen für Pestizide vorgelegt mit der Begründung, dass man damit Handelshemmnisse beseitige. Dabei seien die USA nicht einmal unter den wichtigsten sechs Erdbeer-Lieferländern für Deutschland.

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Paulus und einige andere EU-Abgeordnete kritisieren, dass neue Studien, die die Anhebung des Grenzwerts für unproblematisch erklären, nur geschwärzt zur Verfügung gestellt würden. Dadurch sollen die Geschäftsgeheimnisse des Antragstellers gehütet werden. „Wenn es um die Gesundheit von Menschen geht, darf das kein Geschäftsgeheimnis sein. Denn mit geschwärzten Studien ist es schwierig nachzuvollziehen, ob das Risiko tatsächlich niedriger ist“, sagt Paulus.

Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), das an der Zulassung von Pestiziden in Deutschland mitwirkt, merkt an, dass das EU-Genehmigungsverfahren für einen Wirkstoff wie Flutianil sehr komplex sei. Den offenen Fragen wie der nach der hormonellen Wirkung des Stoffes gingen eine Vielzahl von Bewertungsberichten von Expertengremien ausführlich nach.

„Diese Prozesse dauern einige Jahre, das passiert nicht von heute auf morgen“, erklärt die Lebensmittelchemikerin Marina Rusch vom BVL. Auch wenn die abschließende Bewertung der endokrinen Wirkung von Flutianil noch ausstehe, gelte bis dahin, dass eine Erhöhung beantragt werden dürfe, wenn der Wirkstoff in der EU zugelassen ist. „Alles andere wäre gegen das EU-Recht“, so Rusch.

Über die Grenzwertanhebung von Flutianil stimmte am 24. März 2022 das EU-Parlament ab und lehnte den Einwand der Parlamentarier um Paulus knapp ab. Das heißt: Aus den USA importierte Erdbeeren dürfen ab sofort die 30-fache Menge Flutianil enthalten. Ähnliches gilt für Äpfel, Süßkirschen und in geringerer Menge auch für Gurken und Zucchini. Diese Entscheidung bedeutet auch: Sobald es ein entsprechendes Produkt auf dem EU-Markt gibt, gilt dieser höhere Grenzwert auch dafür.

In Krisenzeiten hält kaum jemand an den Werten fest

Ist die Anhebung der Werte für Importware also eine Hintertür für neue und mehr Pestizide auf dem Acker? Sicher ist, dass Importgrenzwerte ein kritischer Punkt sind. Nicht nur, weil man in eingeführten Produkten immer wieder Rückstände von Pestiziden nachweisen konnte, die in Europa nicht mehr zugelassen sind oder nie zugelassen waren. Sondern auch, weil diese Werte in Krisenzeiten schnell fallen gelassen werden.

So beschloss die EU-Kommission im März 2022, dass die Mitgliedstaaten eigene, zeitlich befristete Regeln für die Menge an Pestizidrückständen in importierten Pflanzen festlegen können, weil viele EU-Länder angesichts des Ukrainekrieges eine Getreidefutterknappheit für ihren Viehbestand befürchteten. Spanien lockerte daraufhin die Einfuhrnormen für Futtermais aus Brasilien und Argentinien, wodurch unter anderem zwei in der EU verbotene Pestizide die festgelegten Grenzwerte überschreiten, die die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) noch als sicher für die Konsumenten bewertet – und nun dennoch auch auf unseren Tellern landen könnten.

Titelbild: Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus

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