Patrick, du bist mittlerweile Ende zwanzig. Waren deine Jahre auf einer Grundschule in Berlin-Kreuzberg so prägend für dein weiteres Leben, dass du ein Buch darüber schreiben wolltest?
Tatsächlich habe ich erst, als ich in München lebte, gemerkt, dass meine Schulzeit in Berlin vielleicht etwas Besonderes war. Ich wurde oft gefragt: Und? Wie war das so in Kreuzberg? Man hört ja so viel Schlimmes, da soll es ja so viele Ausländer und Deutschenfeindlichkeit geben …
Warum hast du dann nicht ein Buch übers Gymnasium geschrieben, sondern über die Grundschule?
Weil die Klasse auf dem Gymnasium schon deutlich weniger interessant gemischt war. Da hatte es sich schon klarer nach der sozialen und ethnischen Herkunft der Schüler getrennt.
Wie viele Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache, also ndH, wie es ja offiziell heißt, waren denn damals in deiner Grundschulklasse?
Etwa die Hälfte unserer Klasse kam aus Migrantenfamilien. An vielen Stellen deines Buches hat man beim Lesen das Gefühl, dass das Schicksal deiner Mitschüler schon festgeschrieben war, bevor sie eingeschult wurden.
Wie viel Einfluss hat die Schule eigentlich auf den Weg der Menschen?
Schule kann im Zweifel viel kaputt machen, aber leider wenig aufbauen, wenn gar nichts vorhanden ist. Bei meinem ehemaligen Mitschüler Sven würde ich zum Beispiel sagen, war schon früh klar, wohin sein Weg geht. Seine Eltern sind Deutsche, trotzdem ist er heute am wenigsten in die Umgebung integriert, in der er lebt. Der wurde immer nur durchgereicht und hängt heute Bier trinkend und auf Bio-Lebensmittel schimpfend in einer totsanierten Markthalle rum. Entweder man hat Glück und bekommt von den Eltern so viele Voraussetzungen mit, dass man in der Schule keine Probleme hat, sich das anzueignen, was auf dem Lehrplan steht. Oder, und so ging es leider vielen Mitschülern, man kommt in der Schule nicht mal bei den Grundlagen mit.
„Ich war überrascht, dass meine Schule ein so gruseliger Klotz ist“
Beim Joggen im Park wurdest du von einem ehemaligen Mitschüler angesprochen, der dir Drogen verkaufen wollte …
Ja, von Ahmed. Ich war einfach neugierig, was die Leute in den letzten 20 Jahren eigentlich gemacht und erlebt haben. Erst mit der Zeit kristallisierte sich raus, welche übergeordneten Themen für das Buch eine Rolle spielten. Ich war zum Beispiel überrascht, wie viele meiner ehemaligen Mitschüler noch oder wieder zu Hause wohnen. Immerhin sind die ja jetzt auch Ende zwanzig. Die Verdrängung aus dem Viertel durch hohe Mieten war bei fast allen ein Thema, weil die meisten bis heute überzeugte Kreuzberger sind.
Wie war es denn, an deine alte Schule zurückzukehren? War es wirklich so finster, wie du es beschreibst?
Ich war überrascht, dass meine Schule so ein gruseliger Klotz ist. So hatte ich es eigentlich gar nicht in Erinnerung. Ich hatte sofort Beklemmungen, als ich da drin war. Interessant war, dass so viele Lehrer immer noch unterrichten, weil sie zu meiner Zeit sehr jung waren. Die haben diese gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die unsere Schulen gemacht haben, verwalten müssen und mit angesehen, wie der Anteil der Schüler aus Migrantenfamilien und sozial benachteiligten Familien stetig gestiegen ist, während die Kinder aus Akademikerfamilien in anderen Vierteln eingeschult wurden.
Zugespitzt gefragt: Sind Lehrer eher Täter oder Opfer eines schlechten Bildungssystems?
Opfer. Die Lehrer wurden alleingelassen. Passiv wurden sie oft zu Tätern gemacht, weil sie nicht anders konnten, als dieses Aussieben der Schüler mitzumachen. Ich habe aber auch sehr hoffnungsvolle Begegnungen erlebt. Die aktuelle Rektorin meiner Schule sagt zum Beispiel: „Mir ist es egal, wo die Kinder herkommen, ich will ihnen einfach eine gute Schulzeit ermöglichen.“ Das halte ich eigentlich für eine ganz erfrischende Haltung in diesem Wettbewerb der Grundschulen um die besten Schüler und die besten Eltern, den es mittlerweile leider gibt. Da wollte sie einfach nicht mitmachen.
Einer deiner ehemaligen Mitschüler, ein Deutsch-Iraner namens Julian, sagte dir, Iraner seien „leistungsorientierter“ als Araber oder Türken. Spielen Nationalitäten denn eine Rolle dafür, wie gut oder schlecht jemand lernt?
Wenn man genau hinschaut, merkt man, dass vieles am Elternhaus liegt. Iranische Einwanderer waren meistens Akademiker, politische Flüchtlinge mit einem höheren Bildungsanspruch. Die klassischen Gastarbeiter aus der Türkei waren eben sozial benachteiligt, verdienten weniger und hatten auch oft weniger Zeit, sich um die Schulbildung ihrer Kinder zu kümmern.
Neigen Eltern zu Rassismus, wenn es um die Auswahl der Schule für ihre Kinder geht?
Ja, total. Das kommt leider daher, dass Eltern immer nur das Beste für ihr Kind wollen. Die Fürsorge ist oft stärker als die politische Vernunft. Es hat mich zum Beispiel schockiert, als ich erfahren habe, dass ein Bekannter von mir, der als Journalist arbeitet und sich für sehr weltoffen hält, die vermeintlich ausländischen Schüler auf Klassenfotos zählte, weil die Schule, auf die sein Kind gehen sollte, ihm keine Statistik über nichtdeutsche Kinder geben wollte.
Würdest du denn deinen eigenen Sohn auf die Rütli-Schule gehen lassen?
Wahrscheinlich schon. Die ist mittlerweile vermutlich eine der Schulen mit der besten Ausstattung Berlins! Aber auch wenn ich es ablehne, Schulen nach der Herkunft der Eltern auszuwählen, würde ich mein Kind nicht auf eine Schule schicken, an der es Probleme gibt, weil es eine schlechte soziale Mischung der Schüler gibt. Ich bin der Meinung, dass sich am System etwas ändern muss.
Und zwar was?
In Rheinland-Pfalz und anderen Bundesländern gibt es zum Beispiel einen ganz klaren Schlüssel. Dort, wo man wohnt, bringt man sein Kind auch zur Schule. Punkt. Wenn es in Berlin auch so wäre, hätten die meisten Schulen viel geringere Probleme. Die Freiheit zur Wahl wurde in Berlin in den letzten Jahren sogar noch gelockert. Das hat dazu geführt, dass die Eltern sich regelrecht um die Plätze an den „noch guten Schulen“ im Stadtgebiet bekriegen. Aber wie man in Hamburg beim gescheiterten Volksentscheid für eine Schulreform gesehen hat, gibt es leider eine starke politische Lobby aus der Mittelschicht, die Angst hat, dass ihre Kinder gemeinsam mit den Verliererkindern lernen müssen. Ich hoffe, dass es in Zukunft keine Schulen mehr bei uns gibt, die so schlecht sind, dass niemand sein Kind draufschicken will.
Aus Patrick Bauer ist auch was geworden: Ab Herbst leitet er die Zeitschrift „NEON“. Sein Buch heißt „Die Parallelklasse. Ahmed, ich und die anderen – Die Lüge von der Chancengleichheit“ und ist bei Luchterhand erschienen; 14,90 Eu