Nichts in ihrem bisherigen Leben hatte Maria Hristidou auf diese Aufgabe vorbereitet. Solange die griechische Wirtschaft boomte, verdiente ihr Mann als Küchenbauer gutes Geld. Dann kam die Krise, ihr Mann verlor seine Arbeit, mit der Arbeit die Sozialversicherung, und eines Tages stand die 41-Jährige vor der Entscheidung: Sollte sie Medizin für ihre zwei chronisch kranken Söhne besorgen, oder sollte sie Essen einkaufen? Die Frage lässt sich auch in Zahlen ausdrücken: Woher 150 Euro nehmen, wenn man nichts hat? 150 Euro, so viel hätte Maria Hristidou monatlich aufbringen müssen. Anfangs hat sie bei Apothekern im Viertel anschreiben lassen, noch heute schuldet sie einigen von ihnen Geld. 150 Euro hier, 200 Euro dort und so weiter.
Dann hat sie jemand auf die Sozialpraxis Elliniko aufmerksam gemacht. Seit zwei Jahren kommt Maria Hristidou nun hierher. Hier wird sie kostenlos behandelt, und auch die Medikamente, die ihre zwei Jungen gegen ihre epileptischen Anfälle brauchen, erhält sie hier umsonst. „Zum Glück gibt es dieses Angebot“, sagt sie. Auf die Frage, was sie andernfalls täte, weiß sie keine Antwort. In Griechenland gibt es im Anschluss an das Arbeitslosengeld, das maximal ein Jahr lang gezahlt wird, keine soziale Grundsicherung, wie das in Deutschland mit Hartz IV der Fall ist. Dass die Familie nicht auf der Straße gelandet ist, verdankt sie den Eltern von Maria Hristidou, die mit ihrer gekürzten Rente aushelfen. Was das bedeutet, fasst die Frau in einem einzigen Satz zusammen. „Es ist schwierig, wenn es fürs Nötigste nicht reicht.“ Ihre Stimme ist farblos, ihr Blick unbeteiligt, ihre Sätze sind kurz. Wenn es an allem fehlt, gibt es nicht viel zu sagen.
Die Krise hat das Leben unzähliger Menschen in Griechenland auf den Kopf gestellt.
Maria Hristidous Geschichte ist so individuell, wie sie typisch ist. Die Krise hat das Leben unzähliger Menschen in Griechenland auf den Kopf gestellt. Sechs von zehn Griechen leben an oder unterhalb der Armutsgrenze, reguläre Medizin kann sich nur noch leisten, wer bar bezahlt. Allein die Unversicherten werden auf über drei Millionen geschätzt. Denn zu den vielen, die ihre Arbeit und damit ihre Krankenversicherung verloren haben, kommen die mitversicherten Familienmitglieder, die nun ebenfalls in der Luft hängen.
Der Kardiologe Giorgos Vichas hat das früh erkannt und bereits Ende 2011 die Sozialpraxis Elliniko ins Leben gerufen. Heute arbeiten hier 280 Ärzte und Helfer auf freiwilliger Basis, mehr als 50.000 Patienten wurden seit der Gründung betreut. Auch heute ist das Wartezimmer wieder voll. Das Telefon klingelt ohne Unterlass, allein am Empfang arbeiten fünf Personen. Die Sozialklinik verfügt außerdem über eine große Apotheke. Rund die Hälfte der Medikamente kommt aus Deutschland. In Hamburg hat sich sogar ein Verein gegründet, um Medikamenteneinkäufe zu organisieren, denn die Sozialpraxis akzeptiert aus Prinzip nur Sachspenden.
Tumore, die außer Kontrolle geraten waren, weil sie monatelang unbehandelt blieben.
Vor allem in der Anfangszeit haben die Ärzte Dinge gesehen, die sie in Europa nicht für möglich gehalten hätten: Tumore, die außer Kontrolle geraten waren, weil sie monatelang unbehandelt blieben, Diabetes-Patienten ohne Insulin, Kranke, die seit Tagen keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen hatten, Schwangere kurz vor der Entbindung, die noch keine einzige Vorsorgeuntersuchung gemacht hatten, und andere, die nicht wussten, wo sie entbinden sollten, sie hatten ja keinen Zugang mehr zum öffentlichen Gesundheitssystem. Das Team der Sozialpraxis musste dann Ad-hoc-Lösungen finden. Andere Male haben sie vermittelt, wenn Krankenhäuser Neugeborene als Unterpfand behalten haben, bis die frischgebackenen, aber unversicherten Mütter das Geld für die Entbindung aufgetrieben hatten. Ein Vorgehen, das für so viel Aufruhr gesorgt hat, dass es alsbald wieder eingestellt wurde.
„Heute sehen wir solche Situationen nicht mehr“, sagt Giorgos Vichas, „denn es gibt mittlerweile ein bürgerschaftlich organisiertes Hilfsnetz.“ Das sei begrüßenswert, doch es bleibe ein bitterer Nachgeschmack. „Wir fangen an, uns mit einer Situation zu arrangieren, die eigentlich eine Ausnahme darstellen sollte.“ Der Arzt holt eine zweiseitige Liste hervor, die sie zusammengestellt haben, sie hängt auch im Wartezimmer aus. „All das sind Adressen in Athen, wo Mittellose eine warme Mahlzeit bekommen“, erklärt er. Ohne solche Hilfsangebote von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen hätte Griechenland vermutlich längst den Notstand ausrufen müssen. Auch deshalb haben sie damals „Nein“ gesagt, als das EU-Parlament die Praxis mit dem Europäischen Bürgerpreis würdigen wollte. „Das EU-Parlament mag keine Entscheidungsgewalt haben“, sagt Giorgos Vichas, „aber es ist ein offizielles Organ der Europäischen Union.“ Und es habe die Austeritätspolitik, die die Sozialpraxis erst nötig gemacht habe, stumm geduldet. „Es wäre ein Hohn gewesen, den Preis anzunehmen“, sagt der Arzt mit Nachdruck. „Auch unseren Patienten gegenüber.“
Seit wenigen Wochen ist in Griechenland immerhin ein Gesetz in Kraft, das unversicherten Bürgern den Zugang zur öffentlichen Krankenversorgung sichern soll, ein Wahlkampfversprechen von Syriza. Die Details müssen noch ausgearbeitet werden, doch Giorgos Vichas ist skeptisch, ob es die erhoffte Entspannung bringen wird. Schon die Zuzahlungen, im griechischen Gesundheitssystem an der Tagesordnung, würden sich die Unversicherten und Mittellosen nicht leisten können. Hinzu kommt, dass die öffentliche Gesundheitsversorgung schon längst an ihre Grenzen gelangt ist. Es fehlt an Personal, und das Budget wurde seit Ausbruch der Krise um mehr als 40 Prozent gekürzt. Immer wieder kommt es in Krankenhäusern zu Versorgungsengpässen, und nicht selten fragt man dann in der Sozialklinik Elliniko an. Aber es gibt noch etwas, das den Arzt nachdenklich stimmt: Seit längerem schon haben sie in Elliniko eine neue Kategorie von Patienten, sie nennen sie die „nur auf dem Papier Versicherten“. Giorgos Vichas trifft sie auch im Krankenhaus, in dem er tagsüber arbeitet. „Oft bitten mich Patienten, ihnen dieses oder jenes Medikament gar nicht erst aufzuschreiben, weil ihnen das Geld für die Rezeptgebühr fehlt.“ Das kann dann bedeuten, dass ein Patient das blutdrucksenkende Medikament nimmt, aber am cholesterinsenkenden spart. Oder andersherum.
Seine Augen sind rot vor Müdigkeit. Schlimmer als die körperliche sei aber die seelische Erschöpfung.
Die Sprechstundenhilfe klopft an und fragt, ob er noch einen Notfall behandeln könne, ein Mädchen mit Ohrenschmerzen. Eigentlich wollte Giorgos Vichas heim zu seiner Familie, die er viel zu wenig sieht, denn an den Wochenenden hilft das Team nun auch in den Flüchtlingsunterkünften rund um Athen aus. Seine Augen sind rot vor Müdigkeit. Schlimmer als die körperliche sei aber die seelische Erschöpfung. „Früher haben wir nach Feierabend unsere Freunde getroffen, das hat uns eine gewisse Normalität garantiert.“ Je länger die Krise aber dauere, desto mehr zögen sich die Menschen in sich zurück. „Und leider ist kein Ende in Sicht.“ Wie lange sie noch durchhalten werden? Giorgos Vichas holt tief Luft, öffnet die Tür und bittet das kranke Mädchen herein. „So lange, wie wir gebraucht werden.“
Alkyone Karamanolis ist Mitglied des Journalistennetzwerkes „Weltreporter“ und berichtet viel aus Griechenland. Sie hat Wahlen kommentiert, während der Waldbrände aktuelle Lageberichte abgegeben, auf Lesbos Flüchtlingsschicksale dokumentiert und in Nordgriechenland schweigsame Seidenraupenzüchter bei ihrem Tagwerk begleitet. Ihre Reportagen beleuchten die leisen Veränderungen in der griechischen Gesellschaft, und das nicht erst seit der Krise.