Damit sich die Volksvertreter der 500 Millionen EU-Bürger verständigen können, gibt es in Brüssel und Straßburg eine riesige Übersetzungsmaschinerie: Aus 23 Amtssprachen müssen die Dolmetscher übersetzen – möglichst so, dass keine Missverständnisse entstehen
Ein sonniger Freitag im Brüsseler Europaviertel. In einem Konferenzzentrum der EU, das mit seiner klobigen Neubaufassade das Straßenbild verschandelt, taucht Katharina Schmid in die klimatisierte, sonnenlose Welt der EU-Meetings ein. Mit dem Fahrstuhl fährt die zierliche 33-Jährige zu ihrem Arbeitsplatz im zweiten Stock. Sechs Glaskabinen sind in die Wände oberhalb des Tagungsraums eingelassen. In einer davon sitzt Katharina Schmid mit zwei Dolmetscherkolleginnen – sie bilden für dieses Treffen das deutsche Team. 27 Mitgliedsländer hat die EU, Dokumente und Reden werden in 23 Sprachen übersetzt, denn jeder Abgeordnete hat das Recht, sich in seiner Muttersprache zu verständigen: Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Irisch-Gälisch, Italienisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch. Zum Vergleich: Die Nato beschränkt sich auf die Übersetzung in zwei Amtssprachen, die Uno in New York mit ihren über 190 Mitgliedsstaaten auf sechs. Über eine Milliarde Euro kostet es pro Jahr, damit sich die Abgeordneten in Brüssel und am Haupttagungsort in Straßburg verstehen. Insgesamt gibt es 506 mögliche Kombinationen der Sprachen.
Er hörte immer nur „Profit“ – dabei ging es um den „Propheten“
Simultandolmetscher müssen sich in komplizierte Sachverhalte einarbeiten können, brauchen Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis und gute Nerven. Laut Weltgesundheitsorganisation gehört Dolmetscher zu den stressigsten Berufen überhaupt – gleich nach Jetpilot und Fluglotse. Katharina hat sich den schmalen, schwarzen Kopfhörer so aufs blonde Haar gesetzt, dass ein Ohr frei bleibt. So kann sie gleichzeitig die Stimme des Redners und ihre eigene hören – das ist ungefähr so, als würde man bei einer starken Rückkopplung unbeirrt weiter in sein Handy sprechen. Während die Dolmetscherin auf Deutsch formuliert, muss sie gleichzeitig dem Redefluss weiter folgen – die Zeitverzögerung beträgt nur wenige Sekunden.
Hörfehler und Missverständnisse sind der Albtraum jedes Berufsanfängers. Die meisten sammeln im Lauf der Jahre einen ganzen Schatz an Horrorgeschichten. Ferenc Robinek aus der ungarischen Kabine erzählt, wie sein Kollege einmal ganz kurz auf die Toilette musste. Als er zurückkam, wurde in der Sitzung viel von „Profit“ gesprochen, was aber weder zum Tagungsthema noch in den Gedankenfluss des französischen Redners hineinpasste. Dennoch übersetzte der Ungar weiter tapfer und sprach über „die Würde des Profits“ und „die Bedeutung des Profits für den Islam“. Erst hinterher wurde ihm klar, dass die ganze Zeit von Mohammed die Rede war – auf Französisch „le prophète“ und nicht „le profit“. Genauso unangenehm dürfte es werden, wenn Staatsmänner losschimpfen – wie etwa der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der einen deutschen Europaabgeordneten mit einem SS-Schergen verglich. In solchen Fällen gibt es in den Dolmetscherkabinen Schweißausbrüche.
Auf der Tischplatte in Katharina Schmids Kabine liegen Gesetzentwürfe in mehreren Sprachen, außerdem hat jede Dolmetscherin einen kleinen Computer vor sich stehen, um im Internet unbekannte Begriffe nachschlagen zu können, die aus allen möglichen Bereichen stammen können – von Tierschutz über das Gesundheitswesen bis zur Landwirtschaft. Heute treffen sich unterhalb von Katharinas Kabine Bildungsfachleute aus allen 27 Mitgliedsstaaten, um über Mindeststandards für die Ausbildung von Ärzten und Zahnärzten zu reden. Bei den technischen Fachbegriffen und Abkürzungen, die auf Griechisch, Portugiesisch oder Slowakisch durch den Raum schwirren, kann auch ein geübter Dolmetscher schnell ins Stolpern geraten.
Bei den Dolmetschern fehlt der Nachwuchs
Auf dem Kabinenplan, den jeder der 18 heute anwesenden Dolmetscher vor Sitzungsbeginn bekommen hat, kann Schmid die Sprachverteilung sehen. Sie selbst überträgt aus dem Englischen, Französischen und Portugiesischen ins Deutsche. Derzeit lernt sie noch Italienisch als vierte Sprache dazu. Doch schon jetzt ist ihr Mix für die Bedürfnisse der Europäischen Institutionen, die die weltweit größten Dolmetscher- und Übersetzerdienste betreiben, ziemlich ideal, denn häufig wird in der EU-Kommission und im Rat der Regierungen nur auf Deutsch, Englisch und Französisch verhan- delt. Portugiesisch wird eher selten genutzt – damit füllt Katharina Schmid, die 2004 an der Kölner FH ein Dolmetscherdiplom gemacht hat, zusätzlich eine Marktlücke. Die portugiesische Expertin, die unten im Saal das Wort ergreift, kann also in ihrer Muttersprache reden, anstatt sich mit dem komplizierten Fachvokabular auf Französisch oder Englisch abzuquälen. Allerdings gibt es heute niemanden, der aus dem Portugiesischen ins Slowakische übersetzen kann – doch einer der drei anwesenden slowakischen Dolmetscher versteht Deutsch. So holt er sich per Knopfdruck Katharina Schmids Stimme auf den Kopfhörer, um dann aus dem Deutschen ins Slowakische weiter zu übertragen. So eine Dolmetscherschleife nennt man „Relais-Übersetzung“.
„Wenn bei einer Sitzung alle 23 EU-Sprachen angeboten werden, dann wird es schwierig, den Kabinenplan zu lesen“, sagt Katharina Schmid. Das Konferenzzentrum, in dem sie heute arbeitet, wurde Ende der siebziger Jahre gebaut, daher kann das nicht passieren. Damals gehörten der Europäischen Gemeinschaft nur neun Ländern an, weshalb man in die Sitzungssäle maximal neun Dolmetscherkabinen baute – eine Erweiterung auf 27 Mitgliedsstaaten konnte sich damals schlichtweg niemand vorstellen. Bis in die sechziger Jahre hinein war zudem „konsekutiv“ gedolmetscht worden – nach jedem Abschnitt machte der Redner eine Pause und ließ den Dolmetscher zu Wort kommen, was einen doppelten Zeitaufwand bedeutete. Doch inzwischen haben sich die EU-Politiker längst an den Luxus gewöhnt, im Sitzungssaal zu den Kopfhörern zu greifen und ihre Muttersprache zu hören. „Damit die Kosten nicht explodieren, haben wir 2004 das ‚Demand and pay‘-System eingeführt“, erklärt Ian Andersen von der Generaldirektion Dolmetschen, dem für das Dolmetschen und die Organisation von Konferenzen zuständigen Dienst der Europäischen Kommission. Seither bietet seine Abteilung nur noch die wichtigsten Sitzungen in allen 23 Sprachen an. Wer zusätzlichen Sitzungen in seiner Muttersprache folgen möchte, muss bezahlen. Bei vielen Ländern ging die Nachfrage daraufhin spürbar zurück, sie schauten genau, bei welchen Sitzungen sie sparen konnten. „Allmählich steigt die Nachfrage aber wieder, weil die Regierungen gemerkt haben, dass es billiger sein kann, in Dolmetscher zu investieren, als seine politische Botschaft nicht präzise rüberzubringen“, sagt Andersen.
Beim Europaparlament in Straßburg mit rund 750 Abgeordneten hat sich die Nachfrage nach Dolmetschern durch die letzte Erweiterungsrunde fast verdoppelt. „Wir können uns nicht wie die EU-Kommission und der Rat der Regierungen am Bedarf jeder einzelnen Sitzung orientieren“, erklärt Olga Cosmidou, die den Dolmetscherdienst des Europäischen Parlaments leitet. „Jeder europäische Bürger hat ein Anrecht darauf, jede beliebige Sitzung per Webstream in seiner Muttersprache verfolgen zu können. Deshalb werden neunzig Prozent unserer Treffen in mehrere EU-Sprachen übertragen – das bedeutet 110.000 Dolmetschertage pro Jahr.“ Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Lissabonvertrag hat den Übersetzern und Dolmetschern noch einmal mehr Arbeit beschert, denn seither ist das EU-Parlament in Straßburg bei fast allen EU-Gesetzesvorhaben mit dem Ministerrat gleichberechtigter Mitgesetzgeber. Übersetzungen müssen fristgerecht vorliegen, Verhandlungsführer bekommen ihren persönlichen Dolmetscher zur Seite gestellt. „Der Ratsvertreter ist vielleicht aus Ungarn und spricht außerdem Englisch“, so Cosmidou, „unser Verhandlungsführer ist Italiener und kann sich auch auf Französisch verständigen – wie sollen die beiden ohne Dolmetscher miteinander reden?“
Während Ian Andersen sein Bezahlsystem am Standort Brüssel als „smart solution“ preist und fest überzeugt ist, dass auch das EU-Parlament in Straßburg und Brüssel mit weniger Übersetzungsaufwand auskommen könnte, eint beide eine Sorge: Der Nachwuchs fehlt. Auf der Facebookseite Interpreting-for-Europe wirbt die EU daher für einen abwechslungsreichen, kreativen, gut bezahlten Beruf, der mit vielen Reisen verbunden ist. Nach der letzten Erweiterungsrunde waren es vor allem die kleinen Sprachen, für die qualifizierte Dolmetscher fehlten. In den baltischen Staaten wurden zum Beispiel unter der russischen Besatzung jahrzehntelang die Landessprachen systematisch verdrängt. Von der Insel Malta mit ihren gut 400.000 Einwohnern sind bis heute nicht genug Dolmetscher nach Brüssel gekommen. Doch man muss keine „exotischen“ Sprachen wie Lettisch, Maltesisch oder Irisch-Gälisch beherrschen, um in Straßburg und Brüssel gute Aussichten auf einen Job zu haben. Das Durchschnittsalter in den deutschen Sprachkabinen liegt bei 50 Jahren, viele der Dolmetscher gehen demnächst in Rente. „In welchem anderen Job ist man dabei, wenn Geschichte geschrieben wird?“, fragt Cosmidou. Und Susanne Altenberg, Chefin der deutschen Sprachabteilung, ergänzt: „Ich lese gerade Tony Blairs Memoiren. Als er im Europaparlament seine berühmte Rede hielt, war ich seine deutsche Stimme.“
Unsere Autorin Daniela Weingärtner hat in der Schule auch Latein gelernt, was man in Brüssel nicht wirklich brauchen kann. 1999 hatte sie allerdings ihre große Stunde: Als die Finnen erstmalig den Rat der Regierungen leiteteten, publizierten sie ihre Webseite auf Latein.