Wie wir ja wissen: Wir können zwar schweigen, aber wir können nicht nicht kommunizieren. Auch eine enge Jeans an einer alten Dame oder ein ACAB-Shirt am Sitznachbarn in der Zivilrechtsvorlesung ist eine Aussage. Und sogar wer behauptet, er interessiere sich nicht für Mode, sagt damit schon etwas – und sei es nur: „Ihr könnt mich alle mal, ich habe Wichtigeres zu tun!“
Solchen Menschen sei nun aber folgendes Buch empfohlen, das ihre Meinung vermutlich ändern wird: „Women in Clothes“, im englischen Original im vergangenen Herbst erschienen und voraussichtlich ab September 2015 in deutscher Übersetzung zu haben. Bei der Lektüre werden auch die muffeligsten Modemuffel schnell merken: Kleidung, das ist mehr als Stoff, mit dem wir unseren Körper bedecken. Und Mode ist mehr als das, was zu dünne Models über die Laufstege der Fashion Weeks tragen.
Auf den ersten Blick ist „Women in Clothes“ allerdings erst mal die reine Überforderung: Mehr als 500 Seiten mit verschiedensten Textformen, Bildstrecken und Illustrationen. Ist es ein Moderatgeber? Ein Kunstband? Eine Essay- oder Interview-Sammlung? Irgendwie ist es alles auf einmal. Hier haben sich zwei Autorinnen (Sheila Heti, Heidi Julavits) und eine Autorin und Künstlerin (Leanne Shapton, in Deutschland u.a. bekannt durch den autobiografischen Erzählband „Bahnen ziehen“) zusammengetan, die viel zu kreativ sind, um einfach bestehende Formen mit Inhalten zu füllen. Sie haben ein Buch gemacht, das möglichst viele Facetten von (explizit weiblicher) Mode beleuchten soll, von der Kleidung an sich bis hin zum Körper oder zu Geschlechterrollen.
Mehr als 30 Interviews mit Personen aus verschiedensten Kontexten bilden dabei eine Art wissenschaftlichen und theoretischen Überbau, sie leuchten die Metaebenen und Wirkungsbereiche von Mode aus. Ein Kunsthistoriker erklärt, dass sich vor allem in Epochen mit vielen Umbrüchen und Spannungen, wie den 20er- oder den 60er-Jahren, ein eigener modischer Stil entwickelt hat – und die heutige Zeit wenig Neues hervorbringt („Hipsters are archivists of past styles“). Eine Geruchswissenschaftlerin spricht über die modische Relevanz von Parfüms und darüber, dass der Duft eines Parfüms weniger vom Produkt selbst als vom Ölgehalt und der Bakterienzusammensetzung unserer Haut abhängig ist. Zu den Gesprächen gehört aber zum Beispiel auch das mit einer Fernsehmoderatorin, von der man erfährt, dass sie jedes ihrer Outfits mit einem Zettel markieren muss, auf dem das Datum steht, an dem sie es zuletzt getragen hat – damit sie es nicht zu bald wieder trägt und das den Zuschauern auffällt.
Wann fühlst du dich am attraktivsten?
Die anderen Formate geben vor allem subjektive Eindrücke wieder, die zeigen, wie unterschiedlich Körper und Geschmäcker sind und wie ähnlich dennoch die Sorgen, Nöte und Freuden, die Frauen damit haben. In den „Surveys“ zum Beispiel gibt es O-Ton-Sammlungen zu ganz allgemeinen Themen wie „Farbe“ („I think it’s important to have one red detail: a purse, a hair bow, shoes“) oder „Brüste“ („I never let a button-up shirt bulge around my boobs“) oder der Frage, wann man sich am attraktivsten fühlt („Covered in salt, after a day swimming in the ocean“). Ein weiteres dieser subjektiven Formate ist „Wear Areas“, eine Silhouette, an der jeweils jemand bestimmte Körperpartien markiert hat und etwas darüber erzählt – was daran schön oder nicht schön, problematisch oder lustig ist.
Das Erzählen ist es auch, was „Women in Clothes“ von anderen Publikationen über Mode unterscheidet: Die Autorinnen gehen davon aus, dass Mode Geschichten erzählt. Dass sie eine Kommunikationsform ist. „I love stories“, schreibt Heidi Julavits, „and women in clothes tell stories. For years I watched other women to learn how I might someday be a women with a story.“ Wie man eine solche Frau wird, dafür werden allerdings keine Regeln aufgestellt. Das ist der zweite große Unterschied: Ob „Das kleine Buch der Mode“ von Christian Dior oder „How To Be Parisian Wherever You Are“ – in Modebüchern werden Begriffe erklärt, die man angeblich kennen muss, und Regeln definiert, an die man sich angeblich zu halten hat, um stilsicher und modisch zu sein.
Die einzige Regel aber, die sich aus „Women in Clothes“ extrahieren ließe, ist, so platt das auch klingen mag: Sei einfach du selbst; finde dich, dann findest du auch deinen Stil. Und ohne dass der Begriff „Feminismus“ fallen muss, schwingt er dabei immer mit. Als moderner, ausgeruhter Feminismus der 2010er-Jahre. Der es Frauen erlaubt, sich auch im weitesten Sinne „zurechtzumachen“, ohne damit zum Objekt zu werden.
Auch kambodschanische Textilarbeiterinnen kommen zu Wort
Als letztes Argument der Muffel bliebe jetzt wohl noch, dass all das trotzdem nur Oberfläche sei, weil sich das Buch anscheinend nur mit schicken Frauen aus Industrieländern auseinandersetzt. Und die Globalisierung der Modeindustrie, die Ausbeutung in Entwicklungsländern, ignoriere. Kann man aber gleich entkräften, dieses Argument, denn die Autorinnen haben auch immer wieder in diese Richtung gedacht. Eine Journalistin aus Phnom Penh zum Beispiel hat für „Women in Clothes“ kambodschanische Textilarbeiterinnen interviewt. Die Frauen sprechen über ihr Leben und ihren Job – und darüber, was sie selbst tragen.
Das ist sehr bewegend, weil deutlich wird, wie groß die Diskrepanz zwischen der teuer verkauften Kleidung ist, die sie für den europäischen und amerikanischen Markt nähen, und der Ware, die sie sich selbst gerade so leisten können. Auch diese Frauen machen sich Gedanken darüber, was sie tragen. Was ihnen steht und was sich gut anfühlt auf der Haut.
Weil Kleidung eben mehr ist als Kleidung. Weil sie Kommunikation ist und schützende Hülle. Weil sie uns Persönlichkeit geben kann und nicht zuletzt: Würde.
Nadja Schlüter ist Redakteurin bei jetzt.de.