28. Dezember 1895. Die Gebrüder Lumière, die Erfinder des Kinematografen, haben nachmittags in den „Salon Indien“ des Pariser „Grand Café“ geladen. Der kleine, im Keller gelegene Raum füllt sich mit Menschen. Als alle Platz genommen haben und das Licht erlischt, beginnt auf einer der Wände ein ungeheures Spektakel. Auf den schwarz-weißen Fotografien bewegen sich Menschen und Natur. Verlassen Arbeiter und Arbeiterinnen eine Fabrik. Füttert ein Vater sein Baby am Frühstückstisch. Fährt ein Zug in einen Bahnhof ein. Springen Jungen kopfüber ins Meer.

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Nanu – ist der echt? Bei der Inszenierung von „Nanuk“ nahm es Regisseur Flaherty nicht so genau (Foto: picture-alliance)

Nanu – ist der echt? Bei der Inszenierung von „Nanuk“ nahm es Regisseur Flaherty nicht so genau

(Foto: picture-alliance)

Die Wirkung, die diese simplen, weniger als eine Minute langen Filme auf die Menschen damals hatten, ist für uns heute nur noch schwer nachvollziehbar. Es war die naturalistische Wiedergabe der Bewegung selbst, die begeisterte. Die Filmgeschichte beginnt also mit Kurzdokumentationen, die einfach die Wirklichkeit abbilden.

Wobei – das stimmt nicht ganz. Filmhistoriker fanden heraus, dass Louis Lumière für seinen allerersten Film, „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“, keinesfalls einfach abfilmte, was vor der Linse seines Kinematografen gerade geschah. Vielmehr soll sein Bruder Auguste die Arbeiter dirigiert haben. Die beiden filmten also nicht die Wirklichkeit, sondern eine inszenierte Version von ihr.

Dieses Vorgehen wirft eine Frage auf, die alle Dokumentarfilme seither begleitet: Bilden sie die „Wirklichkeit“ ab? Sind sie „objektiv“? Obwohl wir heute wissen, dass Filmbildern nicht per se zu trauen ist, steht bei Diskussionen über Dokumentationen nach wie vor meist der Inhalt im Vordergrund, während Fragen nach Ästhetik und Form zu kurz kommen.

Einordnen, Abwägen, Interpretieren, Weglassen

Dabei ist jeder Dokumentarfilm etwas „Gemachtes“, er ist inszeniert. Anders könnte es auch gar nicht sein. Denn in der dramatisierten Form kommt zum Ausdruck, wie wir selbst uns zur Welt verhalten. Wir müssen ständig einordnen, abwägen, interpretieren und vor allem: viel weglassen. Die Welt zwingt uns dazu. Würden wir das nicht tun, wäre alles um uns herum ein Chaos ohne Zusammenhang.

Die Frage nach der Objektivität ist heute sogar aktueller denn je. Denn in den letzten Jahren vermischen sich fiktionale und nichtfiktionale Erzählformen immer häufiger. Das zeigen schon Genrebezeichnungen wie Doku-Fiction, Reality-TV, Doku-Soap, Scripted Reality. Die Privatsender zeigen Serien wie „Mein dunkles Geheimnis“ oder „Verklag mich doch!“, die zwar aussehen sollen wie die Wirklichkeit, tatsächlich aber mit Drehbüchern und Laiendarstellern arbeiten.

In den Kinos wiederum laufen Spielfilme wie „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ (2013), in denen Laiendarsteller ihr Leben und ihre Geschichte vor der Kamera nachspielen. Oder „This Ain’t California“ (2012) über die Skaterszene der DDR, der zwar täuschend echt eine Doku nachahmt, aber komplett inszeniert ist.

Heute fließt die Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Zu Beginn der Filmgeschichte war sie noch gar nicht bekannt. Für den Regisseur Robert J. Flaherty etwa war es selbstverständlich, dass er in seinem berühmten Stummfilm „Nanuk, der Eskimo“ (1922) Laiendarsteller nach seinen Anweisungen spielen ließ und nicht wirklich den Alltag der Inuit filmte. Flaherty wollte unterhalten und präsentierte ein virtuos inszeniertes, aber stark romantisiertes Bild vom Leben am Polarkreis.

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Neue Zugänge: In „The Act of Killing“ arbeitet Regisseur Joshua Oppenheimer die Massaker in Indonesien in den 60er-Jahren auf, indem er sie von den früheren Mördern nachspielen lässt. Das Ergebnis ist aufklärerisch – und verstörend (Foto: picture-alliance)

Neue Zugänge: In „The Act of Killing“ arbeitet Regisseur Joshua Oppenheimer die Massaker in Indonesien in den 60er-Jahren auf, indem er sie von den früheren Mördern nachspielen lässt. Das Ergebnis ist aufklärerisch – und verstörend

(Foto: picture-alliance)

Der Brite John Grierson brachte 1926 erstmals den Begriff „documentary“ auf. Er wollte die Dokumentation „volksbildend“ einsetzen, sie sollte dem „kleinen Mann“ die Welt erklären. Dazu filmte er nicht vermeintlich „exotische“ Völker wie Flaherty, sondern den Alltag der Menschen in England. Bei seinem Film „Drifters“ (1929) vermied er es, Szenen zu inszenieren. Später verlegte er sich aufs Produzieren und gilt heute als Vater der britischen Dokumentarfilm-Bewegung.

„Objektiv“ waren deren Filme aber keineswegs, sondern beseelt von der Idee, die Zuschauer aufzuklären. Dazu setzten sie zum Beispiel die Stimme eines Off-Erzählers ein, die das Geschehen auf der Leinwand für die Zuschauer einordnen sollte – ein Vorgehen, das für zwei neue Strömungen im Dokumentarfilm nach dem Zweiten Weltkrieg unvorstellbar war. Das französische „Cinéma vérité“ und das „Direct Cinema“ aus den USA wollten ab den 50er-Jahren neue Wege finden, den Alltag direkt zu transportieren.

Dabei half den Filmemachern die technische Entwicklung des Filmequipments. Leichte Handkameras und tragbare Tongeräte ermöglichten es den Drehteams, sich direkt unter die Menschen zu mischen, deren Leben sie dokumentieren wollten. Die „vierte Wand“, die den Zuschauer vom Geschehen auf der Leinwand trennte, sollte fallen. Das galt vor allem für das Direct Cinema. Der Anspruch der jungen Regisseure wie D. A. Pennebaker war es, die unmittelbare Gegenwart nur zu beobachten, ohne sie zu kommentieren oder zu verändern. Ihre stille Übereinkunft war, sich beim Dreh zu verhalten, als seien sie unsichtbar.

Die Fliege an der Wand

Im Gegensatz dazu waren die Vertreter des Cinéma vérité gedanklich schon weiter. Ihnen war klar, dass die Gegenwart eines Filmteams immer auch das gefilmte Geschehen verändert. Es ist nicht möglich, nicht zu inszenieren – jedes dokumentarische Erzählen bleibt ein dramatisierender Vorgang. Jede Kameraeinstellung, jeder Schnitt, etwaige Beleuchtung oder Musik beeinflussen und dirigieren die Wahrnehmung des Zuschauers. In diesem Sinne ist sogar ein ungeformtes Stück Film ohne die genannten Eingriffe eine Inszenierung, weil eine bewusste Entscheidung des Regisseurs. Also verlegten sich Filmemacher wie Jean Rouch darauf, etwa durch Interviews direkt mit den Menschen zu interagieren und mit ihrer Kamera Reaktionen zu provozieren. Sie gaben die Illusion auf, sich wie eine „Fliege an der Wand“ verhalten zu können, und reflektierten die Rolle, die sie beim Entstehen ihrer eigenen Filme spielten.

Dieses Verständnis spiegelt sich auch in den journalistischen Standards, die sich im Dokumentarfilm durch den Aufstieg des Fernsehens zunehmend durchsetzten. Dazu gehören eine fundierte und nachprüfbare Recherche und die Kennzeichnung der Position des Autors. Seitdem gilt es als unethisch, den Zuschauer über gezielte Inszenierungen im Unklaren zu lassen.

Standards für die TV-Berichterstattung lassen sich aber nur bedingt auf den künstlerischen Dokumentarfilm übertragen. In eine neue Ära trat er durch den gigantischen Erfolg von Michael Moores „Bowling for Columbine“ (2002) ein. Ein wahrer Doku-Blockbuster: Bei Kosten von vier Millionen Dollar spielte der Film weltweit über 58 Millionen ein. Moore nennt seine Arbeiten „filmische Essays“, mit denen er seine ganz eigene Sicht auf die Welt präsentiert. Insofern geht der Vorwurf am Ziel vorbei, Moores Arbeiten seien subjektiv – gerade das beabsichtigt er ja, und nicht umsonst ist er selbst ständig in seinen Filmen zu sehen. Eher schon transportiert er die Herangehensweise des Cinéma vérité ins Extrem.

Seit diesem Erfolg ist der Dokumentarfilm vor allem im Kino so präsent wie nie. Allein in diesem November laufen zehn Dokus an. Das Themenspektrum reicht vom klassischen Tierfilm („Bären“) bis zur Polit-Doku („Citizenfour“).

Heute spielen Filmemacher mehr denn je mit dem Formenreichtum. Sie fordern das Publikum heraus und erwarten einen wachen, aktiven Zuschauer. Der Glaubwürdigkeit des Dokumentarfilms sollte das keinen Abbruch tun. Der berühmte Regisseur Sergej Eisenstein sagte schon 1925: „In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.“