Suzanne S. Schüttemeyer ist Professorin für Regierungslehre und Policyforschung an der Universität Halle-Wittenberg. Seit 2003 ist sie zudem Chefredakteurin der „Zeitschrift für Parlamentsfragen“. Ihr Forschungsund Arbeitsschwerpunkt ist Repräsentation und Parlamentarismus in Deutschland und international.

Frau Schüttemeyer, würden Sie sagen, dass eine Demokratie in allen Gesellschaften das richtige Politikmodell ist?

Manche Gesellschaften müssen erst ihren Weg dahin finden. Es nützt nichts, wenn ich demokratische Strukturen habe, ich brauche auch eine demokratische Kultur, die hat man nicht über Nacht, die muss gelernt werden, die muss wachsen.

Was macht eine Demokratie aus? Ist zum Beispiel der Iran nicht auch eine – immerhin darf man dort wählen.

Nein, denn allein freie Wahlen machen keine Demokratie aus. Das ist zwar in manchen Staaten ein Riesenfortschritt, aber da muss noch mehr dazukommen: Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, die gegenüber dem Staat einklagbar sind, eine freie Presse, Gewaltenteilung. Gucken Sie sich die Gesellschaftsmodelle der letzten 2000 Jahre an: Es ist die offene Gesellschaft, die Lernprozesse institutionalisiert hat, die Menschen die Chance bietet, maximal zu lernen.

In Russland werden Homosexuelle nun per Gesetz diskriminiert. Entspräche es nicht unserer demokratischen Gesinnung, dass wir intervenieren?

In Russland ist die Unterdrückung von Schwulen und Lesben ein klares Zeichen, dass wir es nicht mit einer freien demokratischen Ordnung zu tun haben. Aber mehr als das laute Einfordern von Menschenrechten können diplomatische Beziehungen dazu beitragen, das dortige Wertesystem zu ändern. Man muss in Kontakt bleiben, um Lernprozesse anzustoßen, im besten Fall eine freiheitliche Ordnung und demokratische Werte zu vermitteln.

Im Falle von Russland scheint das aber keinen Effekt zu haben. Als „lupenreinen Demokraten“ hat ein ehemaliger Bundeskanzler Ministerpräsident Putin bezeichnet. Das scheint heute noch weniger treffend zu sein als damals.

Das stimmt. Und dennoch: Solange ein Land abgeschottet ist, wird kein Wandel eintreten. Man sieht das ja an Nordkorea. Das mag sich mit neuen Technologien wie dem Internet etwas geändert haben, aber auch das kann man ja kappen. Es ist immer eine Gratwanderung: Bis zu welchem Punkt gehen wir mit undemokratischen Staaten um, und wo ist Schluss?

In der Finanzkrise wurden auch bei uns diskriminierende Reflexe wach – etwa, als Südeuropäer für faul erklärt wurden. Wie gefestigt ist unsere Demokratie?

Man darf niemals sagen, dass die Demokratie genügend gefestigt ist. Sie muss immer wieder erkämpft und weitergegeben werden. Es müssen genügend Menschen da sein, die dafür kämpfen.

In der Weimarer Republik waren es nicht genügend.

Genau. Obwohl es damals Grundrechte gab, eine prinzipiell gute Verfassung und Parteien. Aber es war eine Demokratie ohne Demokraten. Die politische Kultur war nicht so entwickelt, dass die demokratische Struktur gefüllt wurde. Und als die Demokratie unter Druck geriet, haben zu wenige hingeguckt. Es muss gar keine radikale Mehrheit geben, es reichen fünf oder zehn Prozent entschlossene Antidemokraten und dazu 50 Prozent, denen die Entwicklung egal ist.

Kaiserzeit, Weimarer Republik, Drittes Reich – muss man im Falle von Deutschland nicht von einem Wunder sprechen, dass unsere Demokratie so stark ist?

Der Grund, warum es gelungen ist, in relativ kurzer Frist in Westdeutschland eine stabile parlamentarische Demokratie zu errichten, war der wirtschaftliche Erfolg, das sogenannte Wirtschaftswunder. Bis dahin hatten die Menschen die Demokratie nie als Erfolg erfahren. Sie hatten den grässlichen Niedergang der Weimarer Republik erlebt, die Schrecken des Totalitarismus und des Krieges. Danach waren viele apolitisch, sie hatten die Nase voll. Deswegen war die Wahlbeteiligung 1949 auch sehr niedrig. Das änderte sich, als es den Menschen besser ging und sie Frieden und Wohlstand erlebten. Da haben sie gemerkt, dass die parlamentarische Demokratie das Verfahren ist, das friedliches Wohlergehen sichert.

Heute geht es den meisten Menschen gut, und dennoch hadern sie oft mit dem politischen System. Passt das zusammen?

Die Demokratie funktioniert viel besser, als es oft in der öffentlichen Wahrnehmung rüberkommt. Die Fernsehsender schwenken über leere Bänke im Bundestag, Zeitungen berichten über faule Abgeordnete, die bei Abstimmungen fehlen. Oft ist doch schon in Kinderserien wie Benjamin Blümchen der Bürgermeister der Böse. Durch Klischees in den Medien bekommen die Bürger einen ganz falschen Maßstab, an dem sie Politik messen.

Dabei sollen die Medien als die vierte Gewalt im Staat die Demokratie stärken.

Mittlerweile sind sie oft daran schuld, dass Politiker nur noch darauf achten, wie sie in den Schlagzeilen rüberkommen, anstatt vernünftige Sachpolitik zu betreiben. Ich sehe das mit großer Besorgnis, weil es Langzeitfolgen hat. Der Verdruss führt dazu, dass immer weniger Menschen in die Parteien gehen. Dabei sind Parteien als Organisationsform unverzichtbar, weil sie den Bürger davon entlasten, sich intensiv mit Politik befassen zu müssen. Er erhält von den Parteien Bündel von Politikangeboten und weiß im Großen und Ganzen, wofür die einzelnen Parteien stehen und ob das seinen Interessen entspricht.

Vielen Wählern ist das Profil aber oft nicht scharf genug.

Weil große Parteien, die 30 oder 40 Prozent der Wähler erreichen wollen, Kompromisse eingehen müssen. Wenn ich nur fünf oder zehn Prozent der Wähler erreichen will, kann ich natürlich viel radikaler sein. Eine Mehrheit erreiche ich so nicht.

Auch wenn ich die anderen für Deppen halte, muss ich sie überzeugen

Aber sind die Parteien dann noch unterscheidbar?

Die Gesellschaft hat sich eben geändert. Vor 30 Jahren wusste ich als Arbeiterkind oder als strenggläubiger Katholik noch genau, was ich zu wählen habe. Heute gibt es so viele unterschiedliche Lebensphasen, dass ich meine aktuellen Interessen immer wieder mit den Parteien abgleichen muss. Wenn man sich die Programme anschaut, entdeckt man Unterschiede. Man muss sich nur die Mühe machen, sie zu lesen. Die Politiker haben nicht nur eine Bringschuld, sondern der Wähler auch eine Holschuld.

Oft hat man den Eindruck, dass in der Politik wenig geschieht, weil ständig Wahlen anstehen und die Politiker Angst vor unpopulären Entscheidungen haben.

Dieser Eindruck entsteht vor allem, weil das politische Alltagsgeschäft kaum zur Kenntnis genommen wird. 90 Prozent von dem, was der Bundestag oder die Regierung tun, kommt in den Medien kaum vor. Das ist die mühselige Kleinarbeit, aus der Politik besteht. Man müsste mal den Alltag eines Abgeordneten zeigen, die Arbeit in den Ausschüssen, die Spezialisierung auf einige Themen. Die meisten sind irre engagiert.

Was halten Sie von direkteren Formen der Demokratie, zum Beispiel Abstimmungen auf Bundesebene?

Was spricht denn dafür?

Dass die Menschen ein besseres Gespür für die Themen bekommen und sich mehr mit Politik beschäftigen.

Das würde ja bedeuten, dass das schlechte Image von Abgeordneten und Parlamenten rationale Gründe hätte. Die gibt es aber meistens nicht. Also wird sich das gefühlte schlechte Image auch nicht ändern, wenn die Menschen selbst mitspielen dürfen. Wenn Sie in die Schweiz schauen oder in die deutschen Bundesländer, wo es ja Volksabstimmungen gibt, dann sieht man, dass die Leute nicht massenhaft an die Urnen gehen. Es gehen vor allem die hin, die sich schon vorher stark engagieren und über finanzielle und intellektuelle Ressourcen verfügen. Das ist die gebildete Mittelschicht. Nehmen Sie die Abstimmung in Hamburg, wo darüber entschieden wurde, ob Schüler länger gemeinsam lernen sollen. Da hat man sich für den Erhalt des alten Systems entschieden.

Wahrt ein Plebiszit also den Status quo?

Es ist kein Instrument, das vorwärts gewandt ist, das eine Modernisierung bringt oder die bislang Benachteiligten, etwa mit Migrationshintergrund oder Hauptschulabschluss, aus der sozialen Ungleichheit führt. Es hilft vor allem denen, die daran interessiert sind, dass alles bleibt, wie es ist. Und da sehen Sie den Zauber von repräsentativer Demokratie. Da geht es eben nicht nur darum, spezielle Einzel- und Gruppeninteressen zu vertreten, sondern die Abgeordneten kümmern sich auch um das Gemeinwohl. Sie müssen die verschiedenen Interessen abwägen und in einem schwierigen Prozess von Konflikt und Kompromiss zum Ausgleich bringen. Das bekommen Sie mit Volksentscheiden nicht in derselben Qualität hin.

Das heißt: Als Politiker muss ich mich um alle kümmern.

Sie müssen eine Mehrheit beschaffen, das ist die zentrale Kunst der Politik. One person, one vote. Jeder Einzelne zählt mit seiner Meinung. Deswegen sind Professoren in der Politik selten erfolgreich – weil sie in ihrem Beruf daran gewöhnt sind, alles besser zu wissen und eben nicht lernen mussten, um Mehrheiten zu verhandeln und Kompromisse zu schließen. Als Politiker muss ich aber noch den letzten Skeptiker überzeugen. Auch wenn ich mich selbst für genial und die anderen für Deppen halte, muss ich die Deppen dennoch überzeugen.

Und was ist, wenn die Deppen in der Mehrheit sind? Ist das dann die Diktatur der dummen Masse?

Sie wollen wohl Wissenstests vor der Wahl einführen? Es muss nicht jeder, der wählen geht, über Sachfragen Bescheid wissen. Wenn ich es ernst meine mit der repräsentativen Demokratie, ist das nicht nötig. Es geht darum, ob die Richtung stimmt, ob die Partei im Großen und Ganzen für meine Interessen steht. Im Moment ist mir vielleicht wichtig, ob ich als Homosexueller heiraten kann oder Ehegattensplitting bekomme. In zehn Jahren steht wahrscheinlich etwas anderes im Vordergrund. Es gibt einen Kern, und wenn der stimmt, muss ich den Rest nicht unbedingt kennen.

Die Parteien haben Nachwuchsprobleme. Wie kommt das?

Die Parteien können eine Reihe von Mechanismen aktivieren, damit sie attraktiver werden. Gerade die jungen Menschen werden nicht mehr so autoritär erzogen wie früher, sie sind es gewohnt, mehr mitzubestimmen, legen Wert auf Partizipation, auf Teilhabe. Das ist ein Demokratisierungsprozess, der auch die Parteien zwingt, ihre Strukturen zu ändern. Aber das nützt nichts, solange das medial verbreitete Image so schlecht ist.

Oft schreckt einen ja schon das Vokabular ab: Da gibt es Parteivorsitzende, Generalsekretäre … hört sich schon an wie in einer Diktatur.

Stimmt. Aber neben neuen Begriffen benötigen wir offenere Willensbildungsprozesse. Es gibt ja viele Menschen, die sich engagieren wollen. Zum Beispiel Frauen, deren Kinder aus dem Haus sind. Die wollen mit 50 oft ehrenamtlich arbeiten – dafür muss man Strukturen schaffen.

Wie kann man die Demokratie verbessern?

Die Medien haben über die Jahre ein falsches Bild von der Politik transportiert und dafür gesorgt, dass die Bürger falsche Maßstäbe anlegen. Das kann man vor allem durch politische Bildung korrigieren. Man sollte schon Kindern zeigen, wie viel Spaß es macht, mitzuwirken, sich einzumischen. Und vor allem: nicht nur für die eigenen Interessen zu kämpfen, sondern auch für andere. Ein Gemeinwesen kann nicht funktionieren, wenn es nur mir gut geht. Das kann man auch in Schulen lehren.

Da sieht es ja mit der Mitsprache oft nicht so gut aus.

Dabei ginge das Einüben von Demokratie gerade im Unterricht. Wenn Sie über eine Klassenfahrt diskutieren, können Sie das zu einem kleinen Lehrstück darüber machen, wie parlamentarische Demokratie funktioniert. Wenn Sie das gut machen, haben Sie mehr geschafft, als es Ihnen in jahrelangem Politikunterricht gelingt. Das Einüben des Streits, des Kompromisses, des Spezialisierens. Es geht um das Gespür, dass Politik ein Mannschaftsspiel ist.

Talkshows sind eine maßlose Verflachung von Politik

Manchmal scheint der Bürgerwille einer Modernisierung entgegenzustehen – wenn zum Beispiel die für die Energiewende dringend notwendigen Stromtrassen nicht gebaut werden können, weil es überall Bürgerinitiativen dagegen gibt.

Gibt es auch ein Zuviel an Mitsprache?

Wir wollen doch, dass Menschen sich einmischen, kümmern, politische Verantwortung übernehmen. Eine pluralistische Gesellschaft muss einerseits eine Vielfalt von Interessen zulassen, auf der anderen Seite brauchen wir Entscheidungen, bei denen man nicht immer alle Interessen gleichermaßen berücksichtigen kann. Da geht es um politische Führung: Politiker müssen die Meinungen ihrer Wähler aufgreifen, aber gleichzeitig auch vorangehen. Ein britischer Politiker hat mal sehr treffend gesagt: I must follow them, I am their leader. Die Kunst demokratischer Politik und von Repräsentation ist es, genau den richtigen Abstand zu finden. Wenn ich zu weit voranschreite, dreh’ ich mich um, und da ist niemand mehr, der mir folgt. Wenn ich zu langsam bin, sind die anderen schon weiter. Das muss man austarieren. Sie müssen immer den Mut haben, auch mal etwas Unpopuläres zu tun, das ist erfolgreiche Politik.

Wie kann man die parlamentarische Demokratie stärken?

Eine Demokratie ist nichts Selbstverständliches. Sie muss permanent erhalten, angepasst und erneuert werden. Der Bundestag ist in vielem vorbildlich – vor allem, was die Rechte der Minderheit, der Opposition angeht. Es gibt das Untersuchungsrecht, Enquete-Kommissionen, Informationsund Fragerechte. Man sollte aber die gesamte Aktivitätsbreite des Parlaments nach außen tragen und damit die Politik transparenter, insofern auch interessanter und nachvollziehbarer für die Bürger machen.

Müsste man dafür nicht die Ausschüsse öffentlich machen, schließlich wird dort der Großteil der Arbeit erledigt?

Ich bin absolut dafür. Dann würde endlich auch ein realistischeres Parlamentsbild erzeugt.

Sollte man auch das Wahlalter senken?

In vieler Hinsicht sind die Teenager von heute weiter als frühere Generationen, aber in anderer Hinsicht nicht. Es gibt aufgeklärte Sechzehnjährige, aber auch Mittzwanziger, die immer noch bei den Eltern wohnen. Die Diskussion über das Wahlalter halte ich für überflüssig.

Funktioniert unsere Gewaltenteilung eigentlich gut?

Ja, aber viele haben ein altes Bild von Gewaltenteilung im Kopf. Das Parlament als Legislative, die die Regierung als Exekutive kontrolliert. Das ist Quatsch. Die Regierung entsteht doch aus dem Parlament, sie ist Fleisch vom Fleische der Mehrheit, die gewählt worden ist. Die Mehrheit des Parlaments plus ihre Regierung ist die eine Seite, auf der anderen Seite steht die Opposition: Das ist das wirkliche Gegenüber im Parlamentarismus. Die Regierungsmehrheit im Parlament gegen die nicht-regierungstragenden Fraktionen. Wenn das Parlament es nicht schafft, aus den eigenen Reihen eine Regierung ins Amt zu bringen und dort vier Jahre lang handlungsfähig zu halten, dann versäumt es seine wichtigste Funktion.

Warum ist diese Aufgabenverteilung vielen Bürgern so unklar?

Das hat auch mit der parlamentarischen Architektur zu tun. Bedauerlicherweise wollen die Abgeordneten in Deutschland alle ihren festen Sitz im Parlament haben, das macht die Sache sehr statisch. Gucken Sie sich mal das britische Unterhaus an. Auf der einen Seite sitzt die Regierung auf einer Bank, und dahinter verschiedene Abgeordnete, die der Regierung den Rücken stärken – die sogenannten Backbencher, die Hinterbänkler. Was ja bei uns dummerweise eher ein Schimpfwort ist. Auf der anderen Seite sitzt die Frontbench der Opposition, dahinter deren Backbencher. Dann findet ein inhaltlicher Schlagabtausch statt, und die Wähler sehen sofort das Schattenkabinett, also die Politiker der Opposition, die regieren wollen. Das ist eine großartige politische Kultur.

Bei uns findet der Schlagabtausch eher in den Talkshows statt.

Na, das ist eine maßlose Verflachung und Skandalisierung von Politik. Da würde ich mir wünschen, dass alle seriösen Politiker sagen: „Da gehe ich nicht hin.“