Die Tauben sind weg, weil die Deutschen sie aufgegessen haben. Das Gurren fehlt, die Stille ist neu. Die Deutschen sind da, weil wir uns im Zweiten Weltkrieg befinden und die Nazis das Reichskommissariat Ostland geschaffen haben, in dessen Norden Estland liegt, der Schauplatz von Sofi Oksanens Roman „Als die Tauben verschwanden“.

Sofi Oksanen ist die wichtigste finnische Autorin der Gegenwart, sie hat zahlreiche Preise gewonnen, ihre Bücher sind in über vierzig Ländern erschienen. Auf der Buchmesse in Frankfurt hat sie am Dienstagabend die Eröffnungsrede für das Gastland Finnland gehalten. Oksanen ist bekannt als eine, die sich oft politisch äußert. In einem Essay für die „Welt“ appellierte sie vor kurzem an den Westen, den russischen Imperialismus zu stoppen. Sie halte es für ihre Pflicht als Schriftstellerin, „an die Momente zu erinnern, in denen eine Seite im Buch der Geschichte umgeblättert wird“.

Oksanen, die 1977 als Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters geboren wurde, begibt sich mit „Als die Tauben verschwanden“ zum dritten Mal mit einem Roman nach Estland. Sie schreibt über die 1940er- und 1960er-Jahre in dem kleinen Land, das im Zweiten Weltkrieg erst von der Sowjetunion besetzt wurde, dann von den Deutschen und schließlich wieder von den Sowjets. Oksanen wühlt tief in der estnischen Geschichte und versucht, Lebensläufe zu beleuchten, die durch Diktaturen geprägt wurden. Kollaborateure, sagte Oksanen vor kurzem in einem Interview, seien „offensichtlich nicht erpicht darauf, Memoiren zu schreiben“ – also hat sie selbst recherchiert, in der Hoffnung zu verstehen: „Historische Romane zu schreiben, heißt, über die Gegenwart aufzuklären.“ Herausgekommen ist ein kompliziert arrangiertes, aber spannendes Buch, das sich mitunter wie ein Thriller liest und dessen Namensverzeichnis und Glossar am Ende sehr gute Ideen waren.

Warten auf den Tod

Die Erzählung beginnt im Krieg, es ist 1941, es fließt viel Blut. Die beiden estnischen Cousins Edgar und Roland kämpfen in Nordestland gegen die Rote Armee. Edgars Frau Juudit sitzt derweil alleine in Tallinn und wartet auf den Tod. Sie hofft, dass sie im Moment des Bombeneinschlags nicht an ihren Mann denken wird, der sie unglücklich macht und der die Ehe nicht vollziehen will, wie man sagt. Aber der Einschlag kommt nicht, die Rote Armee zieht sich zurück, die Deutschen besetzen das Land.

Die Wege von Edgar und Roland trennen sich bald. Edgar ist scharf auf die im Krieg frei werdenden Posten, er nimmt die Identität eines toten Deutschen an und kollaboriert mit den Nazis, bis er merkt, dass sie den Krieg verlieren werden: Da wechselt er wieder die Seiten und inszeniert sich als ihr Opfer. Roland bleibt im Wald zurück, er kämpft mit estnischen Untergrundkämpfern und bringt Flüchtlinge außer Landes. Dabei hilft ihm auch Juudit, die zugleich eine Affäre mit einem SS-Hauptsturmführer beginnt.

Später, in den 1960er-Jahren, schreibt Edgar ein Buch über die Naziverbrechen während der Okkupation, die Geschichten darin biegt er so lange zurecht, bis sie möglichst krass sind. Als sowjetischer Spion informiert er außerdem den KGB über „antisowjetische Aktivitäten“.

Sofi Oksanen stellt die Figur von Edgar, dem Kollaborateur, in den Mittelpunkt ihrer Erzählung. Was geht in jemandem vor, der so skrupellos und opportunistisch ist, in jemandem, der lügt, klaut und verrät und der nicht nur seine Papiere fälscht, sondern am Ende sein ganzes Leben? Die Recherche war nicht leicht, weil der KGB viele Unterlagen zerstört hat, als Estland unabhängig wurde. So kann auch Oksanens Erzählung letztlich nur aus Bruchstücken bestehen. Es bleibt eine Distanz zu Edgar, er wirkt fremd und muss es vielleicht, weil er, beziehungsweise der reale Kollaborateur, der als Vorlage diente, nicht selbst erzählen wird.

Die Lücken im Text spiegeln auch für die anderen Hauptfiguren die Unsicherheiten im Krieg. Jahrelang bleibt unklar, von welcher Seite Rettung kommen wird – und ob sie überhaupt kommt. Oksanen streut viele unausgesprochene Fragen in ihre Erzählung, Fragen über die Psyche von Menschen in totalitären Systemen: Wer lässt sich als Spion anwerben, wer flieht, wer kämpft? Worüber wird geschwiegen? Wie gehen Menschen kaputt?Gerade weil sich die Figuren aber nur aus Bruchstücken lesen lassen, sind einzelne Szenen besonders eindrücklich: etwa wie Edgar den Hitlergruß übt, um als linkshändiger Deutscher durchzugehen, oder wie er seine Mimik kontrolliert, als er mit den Nazis im Restaurant ist.

Edgar versucht, beim Schreiben seines Buches nicht durchzudrehen. Statt eigener Erinnerungen schreibt er erfundene Geschichten auf: „Albträume, die Leser sollten Albträume bekommen.“ Der Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Oksanen schreibt über ihn: „Jeder Mensch hatte eine Sollbruchstelle, und wenn nichts sonst seine Seele zerbrach, so würde es die Zeit tun und Erinnerungen heraufbeschwören, an die er nicht mehr denken wollte.“

Nirgendwo am richtigen Ort

Als Feministin interessiert sich Sofi Oksanen besonders für die Rolle der Frauen im Krieg. Juudit, die mit Edgar unglücklich ist, gerät im wahrsten Sinne des Wortes zwischen alle Fronten. Immer wieder sucht sie ihre Rolle: die der wartenden Ehefrau passt ihr nicht, die der Geliebten lässt sie sich minderwertig fühlen. Sie fühlt sich nirgendwo am richtigen Ort und gibt sich Mühe, ihre Schönheit als ihr Kapital zu wahren. Die Unsicherheit behandelt sie mit Pervitin, einer Droge, die heute als Crystal Meth bekannt ist. In den 60er-Jahren ist sie eine gebrochene Frau.

Die Sprache, in der Oksanen schreibt, wechselt immer wieder das Tempo. In den Kriegsszenen poltert sie die Sätze nur so heraus: „Ich roch den Schweiß des Feindes, im Mund schmeckte ich schon Wut und Eisen, in meinen Stiefeln rannte jemand anders, derselbe fühllose Kämpfer, der neulich im Kampfgetümmel in den Graben gesprungen war und gegen die Männer des Vernichtungsbataillons Handgranaten geworfen hatte, Verschluss, Zugdraht und Wurf, Verschluss, Zugdraht und Wurf, und dieser Jemand stürmte jetzt dem Brummen entgegen.“ Dann wieder nimmt sie sich Zeit, Juudits kleine Wahrnehmungen zu beschreiben, während sie auf die Explosion wartet: „Obwohl die Luft schwer war vom Qualm des Krieges, waren doch nicht alle bekannten Düfte verschwunden.“

Der Wechsel zwischen kraftvoller, dynamischer Sprache und kleinen, stillen Beobachtungen lässt es auch verschmerzen, dass Oksanen da, wo es um die Affären ihrer Hauptfiguren geht, zu heftigem Kitsch neigt. Als Juudit Roland küsst – „der schlüpfrige Schwanz ihrer Zunge schwamm in meinem Mund“ –, ist er völlig überwältigt: „Die Wolken seihten die Sterne in ihre Augen, und die waren wie Waldtauben, die in Milch gebadet hatten.“ Aber vielleicht ist es so, dass Menschen in finsteren Zeiten jeden Hauch von romantischem Pathos mit offenen Armen empfangen, weil sie sich nach anderen Gefühlen sehnen als Angst und Unsicherheit.

Margarete Stokowski schreibt Buchrezensionen, Kolumnen und Feminismusbeobachtungen, meistens für die „taz“, hin und wieder auch für die „Welt“ und das „Missy Magazine“. Sie bloggt aktuell von der Frankfurter Buchmesse.