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Ein Wahlversprechen nur für mich

Wahlkampf mit Kugelschreibern? Das war mal. In den USA arbeiten Parteien schon mit zielgruppengenauen Botschaften. Ist „Microtargeting” eine Gefahr für die Demokratie?

Microtargeting

Stell dir vor, du bist eine Rentnerin in Florida im Jahr 2020. Du hast eine kaputte Hüfte, aber kannst dir die Behandlung nicht leisten. Du bist dir noch unsicher, ob du bei der Präsidentschaftswahl für den Demokraten Joe Biden oder den Republikaner Donald Trump stimmen sollst. Eines Morgens checkst du deine Mails. Darunter: Eine Nachricht von Joe Bidens Wahlkampfteam, das dir ausgerechnet eine bessere Gesundheitsversorgung für Rentner*innen verspricht – na dann! Gut möglich, dass du ab sofort dazu tendierst, deine Stimme der Demokratischen Partei zu geben.

Was ist Microtargeting?

Das, was da passiert, ist kein Zufall, sondern sogenanntes Microtargeting. Bei dieser Wahlkampfpraxis werden die Daten potenzieller Wählerinnen und Wähler aus sozialen Netzwerken und Datenbanken gesammelt – Bildungsabschluss, Zeitschriftenabos, Hobbys oder die präferierte Automarke –, um die Leute in Kategorien einzuordnen und sie dann mithilfe von Machine Learning gezielt anzusprechen. Du hast die ökologische Suchmaschine Ecosia als Startseite eingerichtet und folgst der Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg auf Instagram? Dich kriegen wir mit Klimathemen, am besten in deinem Feed. Du fährst ein SUV und trinkst gerne Whiskey? Dir schicken wir einen Brief und argumentieren mit Wirtschaftsthemen. Kurz: Es geht um hochgradig personalisierte Wahlwerbung, auch „Dark Ads“ genannt, also Anzeigen, die einem bestimmten Publikum vorbehalten sind, ausgewählt beispielsweise anhand von Geschlecht, Alter, Wohnort oder Interessen.

Etwa seit Mitte der 2000er-Jahre wurde Wahlwerbung in den USA individuell an Nachbarschaften angepasst – damals mithilfe von Kreditkartendaten und öffentlichen Registern. Spätestens seit 2008 ist es in den USA üblich, bis zu 500 Informationsdetails pro Person aus dem Netz zu extrahieren. So hatte das Team von Barack Obama vor den Wahlen 2012 ein Computerprogramm entwickelt, mit dessen Hilfe Daten aus verschiedenen Speichern zusammengeführt wurden. Damit konnten die Wahlhelfer*innen durch Stadtviertel gehen und wussten, in welchen Häusern die Unentschlossenen wohnen. Bei eingefleischten Republikaner*innen wurde dann gar nicht erst geklingelt. Spätestens seit Donald Trump auf der Bildfläche erschien, wurde in den USA auch die zielgerichtete Stimmungsmache durch mit gezielt aus dem Kontext gerissenen Negativinformationen als Teil von Microtargeting-Strategien bespielt. Sein Wahlkampfteam hat 2016 etwa 44 Millionen Dollar für sechs Millionen unterschiedliche Anzeigen auf Facebook ausgegeben – viele davon gezielte Kampagnen gegen seine Konkurrentin Hillary Clinton. Er hatte die Firma Cambridge Analytica für seinen digitalen Wahlkampf engagiert. Das Unternehmen hatte unrechtmäßig Daten von schätzungsweise bis zu 87 Millionen Facebook-Usern als Grundlage für seine Analysen verwendet. Die Firma meldete 2018 Insolvenz an, Facebook-Chef Zuckerberg musste sich vor dem US-Kongress rechtfertigen. 

Wieso wird Microtargeting kritisiert? 

Durch Microtargeting können Botschaften entstehen, die am allgemeinen Publikum vorbei nur an ganz spezifische Zielgruppen kommuniziert werden. Das nennt man auch „dog whistle politics“, in Anlehnung an Hundepfeifen mit einer bestimmten Frequenz, die nur für die Tiere hörbar ist. Wie erfolgreich die Methode ist und ob man hier tatsächlich von Manipulation sprechen kann, ist unklar – das Thema ist kaum erforscht. Ob sich die Rentnerin in Florida tatsächlich wegen einer personalisierten Mail von Joe Biden entscheidet, ihn auch zu wählen, ist fraglich.

Die Politsoziologin Isabel Kusche hat sich viel mit Microtargeting befasst. Sie befürchtet, dass die Furcht vor der Manipulation in die falsche Richtung geht und wir dabei das weitaus größere Problem übersehen: „Natürlich gab es immer schon die Idee, dass man den Rentnern was anderes versprechen muss als den Studierenden. Das ist nichts Neues. Aber es war früher immerhin für alle sichtbar, wenn das passierte.“ Heute können Parteien im Verborgenen den verschiedenen Wählergruppen unzählige spezifische Versprechungen machen, die für alle anderen gar nicht wahrnehmbar sind – dasselbe Prinzip wie bei der Hundepfeife. So können ganz unterschiedliche Erwartungen entstehen, denen die Politik unmöglich gerecht werden kann. Die Folge: Die allgemeine politische Öffentlichkeit zersplittert, und es wird schwieriger, über Wahlkämpfe zu berichten – weil es kaum Einblick in die relevanten Datenberge gibt.

Wie ist die Situation in Deutschland?

In Deutschland und der EU ist Microtargeting, anders als in den USA oder in Großbritannien, noch keine vergleichbar gängige Methode. „Es gibt Microtargeting in Deutschland in dem Sinne, dass man bestimmte Zielgruppen anspricht. Aber es hat wenig damit zu tun, wie es beispielsweise in den USA betrieben wird“, sagt Dr. Isabel Kusche. Das liegt vor allem an den strengen Datenschutzbestimmungen, aber auch daran, dass die Methode in Deutschland einfach nicht so viel Erfolg verspricht. „Das Ganze funktioniert zum Beispiel nur, wenn es viele Personen gibt, die sich vorwiegend auf Social Media bewegen“, erklärt Kusche. „In Deutschland wird auch weiterhin viel Fernsehen geschaut, denn Deutschland ist demografisch ein altes Land.“ 2018 haben Social-Media-Plattformen und das EU-Parlament zudem einen „Code of Practice on Disinformation“ beschlossen. Darin wurden Maßnahmen für mehr Transparenz bei politischer Werbung auf Social Media beschlossen. Seitdem gibt es bei Facebook, Google und Twitter Archive, in denen Werbung aufgelistet ist.

Intransparent bleibt jedoch nach wie vor, welche Targetingstrategien jeweils hinter diesen Werbepostings stehen. Abhilfe könnte bald ein neues Gesetz auf EU-Ebene schaffen, das klare Vorschriften für politische Werbung auf Social Media definiert. Es soll rechtzeitig zu den EU-Wahlen im Mai 2024 gelten und verspricht ein Kräftemessen zwischen Plattformen und Regierungen zu werden. Isabel Kusche hält das für essenziell: einerseits um zu verstehen, wie Wahlkampf heute funktioniert, andererseits um das Misstrauen in die Politik nicht weiter zu befeuern.

Was bedeutet das für die anstehende Bundestagswahl?

Im Rahmen des Möglichen machen die großen Parteien, die dieses Jahr zur Bundestagswahl antreten, bereits von Microtargeting auf Social Media Gebrauch. Das legen aktuelle Untersuchungen der Medienanstalten verschiedener Bundesländer nahe. Auch der datengestützte Haustürwahlkampf ist in Deutschland angekommen.

Bis es zu verpflichtenden Regelungen für mehr Transparenz kommt, geben einige Parteien vor der Bundestagswahl nun diesbezügliche Selbstverpflichtungserklärungen ab. Manche Parteien sagen, dass sie das Targeting nutzen, beschränkt auf die Merkmale Alter, Ort, Geschlecht und Interessen. Andere wollen ihre Kampagnen lediglich „auf soziodemografische Merkmale, insbesondere Geschlecht, Sprach- und Alterseinstellungen sowie Beruf und Interessen“ zuschneiden. Viele Parteien haben bislang noch gar keine Erklärungen formuliert. Aber: Das Einhalten von Versprechungen wie diesen bleibt unüberprüfbar, solange Parteien und Plattformen nicht zu Transparenz verpflichtet werden. Bis dahin gilt es, wachsam durch die Feeds zu scrollen.

Illustration: Frank Höhne

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.