Welch‘ schweren Stand die zeitgenössische russische Kunstszene in ihrem eigenen Land hat, musste sie 2003 besonders schmerzlich erfahren. Unbekannte hatten viele Exemplare der Ausstellung „Vorsicht Religion“ im Moskauer Sacharow-Zentrum für Menschenrechte beschädigt und zerstört. Verurteilt wurden allerdings nicht die Täter, sondern die Ausstellungsmacher – wegen Aufwiegelung zu religiösem Hass. An mutigen Kreativen, die mit ihren Werken Politik, Kirche und die Gesellschaft Russlands kritisch hinterfragen, fehlt es nicht. An Rückhalt und Verständnis aus diesen Bereichen hingegen schon. Einige scheint diese Kälte gegenüber freien künstlerischen Meinungsäußerungen jedoch eher anzustacheln als zu hemmen. Vor allem Perfomancekünstler drängen sich in den Fokus der russischen und internationalen Öffentlichkeit und bilden damit den Gegenpol zu den gefälligen Strömungen, die der Staat gutheißt und fördert.

Ist das unsere Gesellschaft, oder kann das weg?

Vandalismus, Provokation, gesellschaftlicher Protest und künstlerischer Anspruch – bei kaum einem anderen Projekt aus Russland verschwimmen diese Begriffe so sehr wie beim Streetart-Kollektiv „Woina“. Im Russischen bedeutet der Begriff „Krieg“, und eine Kriegserklärung an die Staatsobrigkeit ist es in der Tat, die sie mit zahlreichen Aktionen seit der Gründung formuliert haben. Viele davon waren handfeste Gesetzesverstöße, von denen einige auch in westeuropäischen Ländern öffentliche Empörung und Strafverfolgung nach sich ziehen dürften. Mitte 2009 drangen sie in einen Gerichtssaal ein und demonstrierten mit einer krachigen Punknummer für die Rechte zweier Angeklagter, die für die umstrittene Ausstellung „Verbotene Kunst“ verantwortlich waren. Im Juni 2010 malten sie in Sankt Petersburg einen 65 Meter großen Phallus auf eine Zugbrücke, der sich – nachdem die Brücke sich geöffnet hatte – vor dem Gebäude des Inlandsgeheimdienstes FSB aufrichtete. Drei Monate später legten sie ein Polizeiauto aufs Dach und verkündeten in Anlehnung an die Umstürze von Herrschaftshäusern im 18. Jahrhundert ihren ganz persönlichen „Staatsstreich“. Viele weitere Performances ließen sich aufzählen, die die Staatsmacht bloßstellen sollten. Zu internationaler Bekanntheit gelangten einige der Mitglieder allerdings mit einem Ableger: Pussy Riot. Lange vor dem Schauprozess gegen die bunt maskierten Feministinnen waren die Aktionskünstler Ziel juristischer Verfolgung. Heute beschränkt Woina seine öffentlichen Aktivitäten auf einen recht aktiven Twitter-Kanal, über den die Gruppe ihre Follower mit regierungskritischen Informationen versorgt.Oleg Kulik gilt als einer der Vorreiter russischer Aktionskunst. 1996 löste der Moskauer bei einer Gruppenausstellung in Stockholm einen Skandal aus, als er in seiner Rolle als „Hund-Mensch“ andere Künstler angriff. Jahre später beherbergte er in seinem Atelier Kunststudenten, die unter anderem die Art-Gruppe „Bombily“ gründeten. Bombily wurden vor allem durch eine Aktion bekannt, bei der zwei ihrer Mitglieder Sex auf dem Dach eines Autos haben, während es durch die Straßen Moskaus fährt. Das Ziel des Mitgründers Anton Nikolaev: Kunst so öffentlichkeitswirksam wie möglich einem unvorbereiteten Publikum verständlich machen. Die befreundete Gruppe „Woina“ knüpfte daran an und wurde in den folgenden Jahren in ihren künstlerischen Mitteln und der politischen Intention noch radikaler.

Pjotr Pawlenski – Finger in die Wunde

Wenn Schriftsteller, Maler oder Filmemacher ihren Werken mit der Aussage „Kunst muss wehtun“ mehr Bedeutung verleihen wollen, meinen sie meistens: Sie soll dem Betrachter wehtun. Die Konfrontation mit dem Werk darf nicht nur ein ästhetischer Genuss sein, sondern muss das Publikum auf unangenehme Art berühren und es mit Abgründen konfrontieren. Bei Pjotr Pawlenski bedeutet es noch etwas anderes. Seine Kunst besteht darin, sich selbst Schmerz zuzufügen. Im Juli 2012 nähte er sich seinen Mund zu, um Solidarität für die inhaftierten Aktivistinnen von Pussy Riot zu bezeugen. Knapp ein Jahr später wickelte er sich nackt in einen Kokon aus Stacheldraht und prangerte damit eine Reihe russischer Gesetze an – wie etwa jenes, das die Freiheit von Homosexuellen einschränkt. Eher selten nehmen Künstler Stellung zu ihren eigenen Werken, Pawlenski will es ganz deutlich machen. Nachdem er im November 2013 seine Hoden auf den Roten Platz in Moskau genagelt hatte, kommentierte er die Tat mit den Worten: „Ein nackter Künstler, der seine an die Pflastersteine befestigten Eier anschaut, ist eine Metapher für die Apathie, die politische Indifferenz und den Fatalismus der gegenwärtigen russischen Gesellschaft.“ Längst fordern die Behörden die Einweisung des 31-Jährigen in eine Anstalt – bisher vergeblich. Dorthin ging er im Oktober des vergangenen Jahres dann freiwillig. Wieder splitterfasernackt setzte er sich auf eine Mauer des Moskauer Psychiatrischen Instituts und schnitt sich ein Ohrläppchen ab.

Chto delat – die Geschichtenerzähler und Propheten

Sie sind nicht so kompromisslos wie Pjotr Pawlenski und nicht so medienwirksam wie Pussy Riot. „Chto delat“ (deutsch: Was ist zu tun?) suchen eher den intellektuellen Zugang zum Zustand der Gesellschaft, scheinen mit ihrer Kunst aber den längeren Atem zu haben. Am 28. Februar dieses Jahres eröffneten sie ihre Ausstellung in der Berliner Galerie KOW, zufällig an jenem Tag, als der Oppositionelle Boris Nemzow in Moskau ermordet wurde. Tatsächlich sieht die Gruppe in ihrer ausgestellten Video-Installation „The Excluded. In a Moment of Danger“ eine Art Prophezeiung für diesen traumatischen Moment. Das Werk – ein kunstvoll aufgezeichnetes experimentelles Theaterstück – behandelt die Hintergründe, Mechanismen und Risiken des zivilen Widerstandes. Bereits seit seiner Gründung in Sankt Petersburg 2003 prangert der lose Verbund von Künstlern, Schriftstellern, Kritikern und Philosophen die verkrusteten und autoritären Strukturen der russischen Gesellschaft an. Die Perestroika, den ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Umbau Russlands, kommentieren sie mit Pappfiguren von Monstern und surrealistischen Verballhornungen nationaler Wahrzeichen. In kleinen Musicals lassen sie den sogenannten kleinen Mann über sein Leben klagen und erinnern an den niedergeschlagenen Putschversuch gegen Michail Gorbatschow im August 1991. Im Juni vergangenen Jahres wurde ihre sechs Meter hohe Pappmaché-Figur eines Soldaten zerstört, die zum „Kampf gegen den Faschismus“ aufrufen sollte. Da stand die Skulptur nicht etwa in Moskau , Wladiwostok oder Sankt Petersburg, sondern mitten in Berlin. Die Überreste von „Our Paper Soldier“ sind derzeit ebenfalls in der Galerie KOW zu sehen – als bewusste Vergegenwärtigung einer künstlerischen und gesellschaftlichen Katastrophe.«Исключенные. В момент опасности». from Colta.ru on Vimeo.

Andreas Pankratz arbeitet als freier Journalist in Köln und hat für flute.de vor einiger Zeit bereits einen Artikel über bildende Kunst in Russland und anderen autoritären Staaten geschrieben