Für Wenzel Michalski ist es blanker Hohn. An der Friedenauer Gemeinschaftsschule in Berlin hängt immer noch das Schild „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Dort, wo sein Sohn monatelang von Mitschülern antisemitisch beschimpft und geschlagen wurde. „Juden sind alle Mörder“ war eine der Feindseligkeiten, die sein damals 14-jähriger Sohn von einem muslimischen Mitschüler zu hören bekam. Eine andere: „Ich kann nicht mit dir befreundet sein, weil du Jude bist.“ Es blieb nicht bei solchen Sprüchen, Michalskis Sohn wurde bedroht, getreten und gewürgt. Auch Schüler aus höheren Klassen setzten ihm nach. Zum Schluss zielte einer mit einer Pistole auf ihn – und drückte ab. Eine Attrappe.
Was kommt als Nächstes, fragten sich die Michalskis. Ein Messer? Eine echte Knarre? „Nach der Sache mit der Pistole hatte unser Sohn Angst um sein Leben. Wir ehrlich gesagt auch.“
Andere jüdische Schulkinder erlebten Ähnliches: An einem Gymnasium in Wedding lobte eine Mitschülerin Hitler, weil dieser viele Juden umgebracht habe. Und an der renommierten bilingualen John-F.-Kennedy-Schule in Zehlendorf klebten Neuntklässler ihrem jüdischen Mitschüler Zettel mit Hakenkreuzen auf den Rücken und wünschten ihm, er solle „ab nach Auschwitz“ fahren. Mit dem Güterzug.
Wie ist es möglich, dass sich der Hass gegen Juden heute wieder so unverhohlen äußert? Allein in Berlin kommt es jeden Tag im Schnitt zu fast drei antisemitischen Vorfällen: Kippaträger werden auf offener Straße angegriffen, im Netz lassen Antisemiten ihrem Hass auf Juden zunehmend freien Lauf, wie eine aktuelle Studie der TU Berlin zeigt. Und Lehrer berichten, dass „Jude“ auf den Pausenhöfen ein geläufiges Schimpfwort ist. Genau wie „Spast“, „Schoko“ oder „Kartoffel“.
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) kündigte vor ein paar Monaten an, mehr als 170 Antimobbing-Teams an jene Schulen schicken zu wollen, die Probleme haben. Diese sollen mit Jugendlichen über gegenseitigen Respekt reden: dass es nicht okay ist, jüdische oder nichtgläubige, schwule oder lesbische, geistig oder körperlich behinderte Mitschüler abzuwerten. Denn so viel ist klar: Mobbing kann jeden treffen. Nadine, weil sie eine Brille trägt, Jonas, weil er stottert, Fatimah, weil sie sich ein Kopftuch umbindet. Es beginnt mit Hänseleien im Klassenzimmer und endet oft mit körperlicher Gewalt – oder in unsichtbarer wie beim Cybermobbing. Dann ist nicht die Faust die Waffe, sondern das Smartphone. Und damit wird das Mobbing räumlich und zeitlich ausgedehnt. Nach der Schule geht es dann erst richtig los.
Wie traumatisch das für die Betroffenen sein kann, weiß Uwe Jacobs. Der Schulleiter des Berliner Marie-Curie-Gymnasiums hatte vor Kurzem zum ersten Mal mit Cybermobbing zu tun. Eine Achtklässlerin war von mehreren Mitschülerinnen über Wochen in sozialen Netzwerken bloßgestellt worden. Jacobs merkte, wie schwer es dem Mädchen fiel, über das Vorgefallene zu sprechen. Und wie unsicher er und seine Kollegen im Umgang damit waren. Jacobs hat sich und seinem Kollegium deshalb gerade eine Anti-Mobbing-Fortbildung aufgebrummt.
Wie häufig es tatsächlich an Schulen zu Mobbing kommt, kann nur geschätzt werden. Systematisch wird das bislang nirgends erfasst. Die meisten Bundesländer schreiben den Schulen zwar vor, Gewalttaten zu melden sowie bei strafrechtlich relevanten Vorfällen die Polizei zu informieren, Mobbing fällt aber nicht unter diese Pflicht. Umfragen legen jedoch nahe, dass es weit verbreitet an deutschen Schulen ist: In der PISA-Studie 2015 gab jeder Sechste an, regelmäßig gemobbt zu werden. In Berlin wären demnach also mehr als 50.000 Jugendliche betroffen. Dem Berliner Senat wurden 2015 pro Halbjahr aber nur 50 Mobbingfälle gemeldet. Das soll sich nun ändern. Ab kommendem Schuljahr müssen Berliner Schulen zumindest antisemitische Vorfälle melden.
Viele Lehrkräfte seien gar nicht darin ausgebildet, Mobbing zu erkennen und professionell zu begleiten, erklärt Marina Chernivsky. Seit 15 Jahren berät die Psychologin Schulen, Ämter und Familien bundesweit bei Antisemitismus- und Mobbingfällen. „In keinem Bundesland ist der Umgang damit ein verpflichtender Bestandteil der Lehramtsausbildung. Das muss sich dringend ändern.“ Und dann gibt es noch ein anderes Problem, weiß Chernivsky aus ihrer Beratungstätigkeit: die Angst der Schule, in der Öffentlichkeit schlecht dazustehen. Die Mehrzahl der Betroffenen, die sich wegen eines Mobbingfalls an sie wendeten, hätten sich von der Schulleitung nicht ausreichend gehört gefühlt, erzählt Chernivsky. In einigen Fällen haben Eltern ihr Kind lieber von der Schule genommen. So auch Wenzel Michalski. „Man wollte uns weismachen, dass das Verhalten der muslimischen Kinder nichts mit Judenhass, sondern mit dem Nahostkonflikt zu tun habe.“
Die Erklärung fällt immer wieder, wenn es um antisemitische Einstellungen geht. Vor allem bei muslimischen Jugendlichen spiele die Wahrnehmung des Staates Israel eine große Rolle, beobachtet Ender Cetin. In ihrem Umfeld hören sie, dass Muslime und Juden Feinde seien. Um diese Sichtweise infrage zu stellen, geht der islamische Theologe regelmäßig an Schulen und wirbt für Respekt zwischen den Religionen. Was kann jemand in Berlin dafür, dass sich Israelis und Palästinenser um Jerusalem streiten? Mit solchen Fragen will Cetin die Teenager zum Nachdenken bringen. Begleitet wird er dabei in der Regel von einem Rabbiner; „meet2respect“ heißt das Projekt.
Auch beim Mobbing gegen Michalskis Sohn an der Friedenauer Gemeinschaftsschule habe der Israel-Palästina-Konflikt eine Rolle gespielt, sagt Schulleiter Uwe Runkel. Einer der Täter habe in dem Konflikt seinen palästinensischen Großvater verloren. Damit wolle er die Vorfälle aber keineswegs verharmlosen. „Sie sind eindeutig antisemitisch.“ Den Vorfall mit der Pistole hat die Schule zur Anzeige gebracht. Es habe auch Gespräche mit allen beteiligten Eltern und Schülern gegeben. Offenbar, räumt Runkel ein, habe die Schule aber nicht genug gemacht, um das Vertrauen der Eltern zu halten. Dem Vorwurf, das Mobbing nicht ernst genommen zu haben, widerspricht der Schulleiter.
Die Michalskis sehen das anders – und sich nicht wirklich ernst genommen. Als kürzlich die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung die Schule besuchte, um über Diskriminierungserfahrungen an der Schule zu sprechen, waren die Michalskis nicht eingeladen.