Warum haben so viele Menschen nichts zu essen, obwohl doch genügend da ist?
Mehr als zwei Drittel der Menschen, die nicht genug zu essen haben, sind Kleinbauern. Keine gesicherten Verhältnisse beim Landbesitz, zu niedrige Erzeugerpreise, mangelnder Zugang zu Saatgut und Dünger: All diese Faktoren tragen dazu bei, dass sich die Kleinbauern nicht aus der Hungerfalle befreien können. Zudem schöpfen große Nahrungsmittelkonzerne aus der Produktion und der Vermarktung von Agrarprodukten große Gewinne, während Millionen Menschen hungern und Kleinbauern vertrieben werden. Ein Problem ist auch das sogenannte Landgrabbing, bei dem Regierungen oder auch Konzerne in anderen Ländern Ackerland kaufen oder pachten, um für ihre eigene Bevölkerung vorzusorgen oder Gewinne zu erwirtschaften. „Immer mehr Menschen werden vertrieben, oft mit Gewalt, ohne vorherige Konsultation oder Entschädigung“, sagt die Oxfam-Agrarexpertin Marita Wiggerthale. Laut Oxfam wurde in den vergangenen zehn Jahren Agrarland an internationale Investoren verkauft oder verpachtet, dessen Fläche zusammengerechnet sechsmal so groß war wie Deutschland.
Einen weiteren Grund für den Welthunger sehen viele Experten in der Spekulation mit Nahrungsmitteln. So spekulieren Händler zum Beispiel auf steigende Getreidepreise und treiben diese damit in die Höhe. In der Folge ist es etwa in Ägypten zu Protesten gekommen, weil sich der Brotpreis verdoppelte. Die Weltbank schätzt, dass bedingt durch die Hochpreisphase 2007/2008 etwa 100 Millionen Menschen zusätzlich Hunger litten, weil sie die höheren Preise nicht mehr bezahlen konnten.
Welche Länder sind überhaupt arm?
Die meisten armen Länder befinden sich in Afrika, wobei nicht alle Teile Afrikas arm sind. So ist Südafrika in seiner Entwicklung wesentlich weiter als zum Beispiel der Tschad oder Mauretanien. Der Oxford-Professor und ehemalige Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank, Paul Collier, schlägt als Bezeichnung für die ärmsten Länder der Welt das Kürzel „Afrika+“ vor, wobei das Plus für Länder wie Haiti, Bolivien, Laos, Kambodscha, Myanmar, Jemen und Nordkorea steht. Laut Weltentwicklungsbericht der Vereinten Nationen (Human Development Report 2011) befindet sich unter den 20 ärmsten Ländern der Welt mit Afghanistan tatsächlich nur ein einziges, das nicht in Afrika liegt.
Sind manche Länder von vornherein benachteiligt?
Wenn ein Land keinen Zugang zu den Weltmeeren hat, ist es in seiner Entwicklung gehemmt – vor allem, wenn dieses Land von Nachbarn umgeben ist, die ebenfalls eine schlechte Infrastruktur haben. Darüber sind sich die Experten einig. In Afrika gibt es einige Länder, auf die das zutrifft. Allgemein gilt auch ein extremes Klima als Armutsfaktor. Manche Historiker sind der Auffassung, dass die Armut mancher Länder mit der Kolonialisierung zusammenhängt. Tatsächlich zerstörte die imperiale Politik westlicher Staaten in vielen Ländern das soziale Leben: Die Urbevölkerung wurde versklavt oder ausgerottet, das bestehende Wirtschaftssystem durch ein System ersetzt, das vor allem den europäischen Nationen nützte. Durch willkürliche Grenzziehungen kam es nach der Unabhängigkeit in vielen Ländern zu Kriegen. Dauerhaft geschwächt werden Staaten auch durch Tropenkrankheiten. „Malaria hält ein Land in der Armut fest“, schreibt Paul Collier. „Der potenzielle Markt eines armen Landes wiederum ist für Pharmaunternehmen nicht attraktiv genug.“
Warum sind so viele Länder trotz ihrer Rohstoffe arm?
Unter „Dutch Disease“ – Holländische Krankheit – versteht man das Paradox, dass manche Länder gerade aufgrund ihrer reichen Bodenschätze verarmen (vor der holländischen Küste waren 1960 große Erdgasvorkommen entdeckt worden), da insbesondere arme Länder dazu neigen, ihre Wirtschaft ausschließlich auf den Export dieser Rohstoffe auszurichten und dabei den Aufbau anderer Industriezweige vernachlässigen. Sinken die Weltmarktpreise für die Rohstoffe, geraten die Staaten in eine Schuldenfalle.
Ein anderer Grund für den Abstieg von rohstoffreichen Ländern liegt in der Gefahr, dass um die Bodenschätze Kriege geführt werden und die Erlöse aus deren Verkauf die Konflikte verlängern. So wurde der Bürgerkrieg in Angola auf beiden Seiten durch den Verkauf sogenannter Blutdiamanten finanziert. Ein anderes Beispiel ist die Demokratische Republik Kongo, die über große Coltanreserven verfügt. Der Kampf um diesen für die Handyproduktion wichtigen Rohstoff ist ein Treiber des dortigen Bürgerkrieges, der bisher mehr als fünf Millionen Opfer gefordert hat. Je stabiler die Regierungen sind, desto eher tragen Bodenschätze zum Wachstum bei: Die Golfstaaten, aber auch Norwegen gehören wegen ihres Öls zu den reichsten Ländern der Erde.
Hat die Globalisierung zur weltweiten Armut beigetragen?
Das kommt darauf an, welche Weltregion man betrachtet. So sind manche ehemals sehr arme Länder Gewinner der Globalisierung, weil sie aufgrund der niedrigen Lohnkosten produktionsintensive Industrien angezogen haben. Sportartikelhersteller oder auch Computerfirmen lassen billig in Südostasien produzieren, wodurch es dort einen Aufschwung gab – auch wenn es berechtigte Kritik an den Arbeitsbedingungen gibt. „Die Globalisierung hat die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen seit 1990 in Indien um 200 Millionen und in China um 400 Millionen verringert“, schreibt der US-amerikanische Wirtschaftsprofessor Jeffrey Sachs, der auch die UN berät. Die Entwicklung in Asien hat aber auch dazu geführt, dass manche Länder in Afrika noch weniger Chancen haben, der Armut zu entkommen, da sich die Investitionen weltweiter Unternehmen und Banken auf andere Länder konzentrieren.
Auch, dass Kapital so mobil wie nie zuvor ist, gereicht den armen Ländern eher zum Nachteil: So werden Vermögen eher dort investiert, wo man schnell hohe Renditen erzielen kann. Anstatt dringend benötigtes Privatkapital zu bekommen, fließt das Geld aus armen Ländern sogar ab. So befand sich bereits 1990 mehr als ein Drittel der Privatvermögen Afrikas im nichtafrikanischen Ausland.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen absoluter Armut und relativer Armut?
Von absoluter Armut spricht man, wenn ein Mensch kaum genug hat, um zu existieren. Das betrifft den Zugang zu Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsvorsorge. Die Weltbank nennt als Grenze für absolute Armut die Summe von 1,25 Dollar pro Tag. Das trifft auf 1,2 Milliarden Menschen zu, von denen die meisten wesentlich weniger als einen Dollar haben. Diese Form der Armut gibt es in Deutschland nicht. Hier und in anderen entwickelten Ländern spricht man von relativer Armut. Sie bezeichnet das Einkommen und den sozialen Status eines Menschen im Verhältnis zu seinem Umfeld. Die relative Armut sagt wenig über den Lebensstandard aus: So kann ein Bürger mit seinem Einkommen in dem einen Land als arm eingestuft werden und in einem anderen zur Mittelschicht gehören.
Sind arme Menschen in reichen Ländern nicht selbst schuld an ihrer Armut?
Manchmal wird in politischen Debatten der Verdacht laut, arme Menschen wollten aus ihrer Situation gar nicht mehr heraus. Ausgestattet mit Hartz IV, Bier und Zigaretten habe sich die Unterschicht vor dem Flatscreen eingerichtet. Dieses Milieu, so die Annahme, verfüge mittlerweile über ein ganzes System von Denk- und Handlungsmustern, das von Generation zu Generation weitergegeben werde: Man ist disziplinlos, träge und faul. Sogar sozialdarwinistisch geprägte Erklärungen, wonach die angeborene Intelligenz eines Menschen darüber bestimmt, ob er arm bleibt oder reich wird, haben Konjunktur. Thilo Sarrazin knüpfte mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ an diese Tradition ebenso an wie der US-amerikanische Politologe Charles Murray in „The Bell Curve“. Deren Gegner verweisen auf strukturelle Probleme, für die die Armen nicht verantwortlich sind. Gründe also, die man nur durch gesellschaftliche Veränderungen beheben kann (siehe Seite 36).
Gemeinnützige Organisationen empfehlen auch Familienschulungen, Beratungen und Sozialarbeit, die schon bei der Erziehung ansetzen. Um die Kinder bereits in der Schule so zu fördern, dass sie gar nicht erst in die gleichen Verhaltensmuster verfallen wie die Elterngeneration. Denn das schränkt die Kinder später erheblich ein in ihrer Möglichkeit, den ärmlichen Lebensverhältnissen zu entkommen. Auch für Erwachsene gilt: Sind die Lebensverhältnisse durch Verarmung erst einmal finanziell, psychisch und räumlich beengt, kann sich niemand mehr so einfach dafür „entscheiden“, sein Leben zu ändern.
Ist Armut ein Teufelskreis, aus dem man nicht so leicht rauskommt?
Die seit 2001 veröffentlichten Armutsberichte der Bundesregierung dokumentieren, dass es für diejenigen, die einmal in Armut geraten sind, immer schwieriger wird, sich wieder daraus zu befreien. Dazu passt, was Soziologen wie Robert K. Merton und Mario Rainer Lepsius und auch der Ethnologe Oscar Lewis als „Teufelskreis der Armut“ beschrieben haben: Arme Menschen machen fortgesetzt die Erfahrung, dass ihre Mittel, den eigenen sozialen Aufstieg voranzutreiben, begrenzt sind. Sie verfallen in Resignation und Fatalismus, was zu immer noch größerer Armut führt. In reichen Gesellschaften liegt ein wichtiger Grund wohl auch in dem Schamgefühl, das arme Menschen empfinden – und in der subtilen Diskriminierung, der sie ausgesetzt sind.
Nach Einschätzung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu geschieht die Ausgrenzung heute zwar nicht mehr so direkt wie früher (als in Stellenanzeigen schon mal zu lesen war: „Bewerbungen von Arbeiterkindern zwecklos“). Die Mitglieder der unteren Schichten werden eher indirekt und aufgrund ihrer äußeren Erscheinung, ihres Verhaltens, ihrer Kleidung und Sprache benachteiligt. Langfristig kann aus solchen wiederholt negativen Erfahrungen im Bemühen um sozialen Aufstieg und Anerkennung eine Einstellung entstehen, die der Psychologe Martin Seligman als „erlernte Hilflosigkeit“ bezeichnet. Je stärker sich die Lebensumstände eines Menschen in Armut verfestigen, desto mehr neigt er dazu, eigene Entscheidungen und Initiativen als wirkungslos wahrzunehmen. Dieses Gefühl wird immer stärker – bis der Ehrgeiz und die Motivation auf dem Nullpunkt ankommen.
Was kann die Politik tun?
Strategien zur Bekämpfung der Armut hängen davon ab, wo Parteien und politische Akteure jeweils die Armutsgrenze ansetzen und wo sie die Ursachen der Armut vermuten. Ob sie mangelnde Aufstiegsbemühungen als eine Folge der Armut betrachten oder Armut als eine Folge geringer Aufstiegsbemühungen. Bei Letzterem steht finanzielle Unterstützung im Verdacht, die Menschen nur immer noch weiter in ihre problematischen Verhaltensweisen hineinzutreiben. So argumentierte zum Beispiel der Historiker Paul Nolte (siehe auch Seite 16), als er die Formulierung „fürsorgliche Vernachlässigung der Unterschicht“ prägte und forderte, man müsse den Menschen statt Geld wieder kulturelle Leitbilder und Standards vermitteln. Ein anderes Schlagwort ist die sogenannte Hilfe zur Selbsthilfe. Damit ist gemeint, dass bei manchen Menschen am unteren Rand der Gesellschaft konkrete Kompetenzen gefördert werden sollten, die man benötigt, um am gesellschaftlichen Leben wieder teilhaben zu können: sparsam mit Geld umgehen, Bewerbungen schreiben, den Kindern bei den Hausaufgaben helfen und so weiter.
Allerdings sind Parteien, die die Armen traditionell eher als Opfer denn als Schuldige sehen, weniger skeptisch gegenüber finanziellen Zuwendungen. Sie teilen nicht die Bedenken, ein zu großzügiger Sozialstaat leiste der Entstehung einer Unterschichtkultur Vorschub. Sie argumentieren ungefähr so: In dieser Gesellschaft, in der Konsum einen hohen Stellenwert hat, ist eben auch Geld Teil der Voraussetzung, wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Demnach muss man den Menschen eine ausreichende finanzielle Mindestsicherung bewilligen, wenn sie nicht noch weiter in die Armut abrutschen sollen. Es müsse daher darum gehen, beide Instrumente – die finanzielle und die soziale Förderung – sinnvoll zu kombinieren.