Im Alter von sechs oder sieben Jahren sah ich an einem dieser endlosen Kindheitssonntage im Fernsehen ein Puppenspiel. Es handelte von einem Mann, der mehrmals dem Tod entkam und alterte. Eines Tages aber hatte der Tod – ein schwarzer Umhang ohne Gesicht – die List des steinalten Mannes durchschaut und nahm ihn mit in sein Reich. Das machte mir Angst. Wie kann es sein, dachte ich, dass man eines Tages so ganz verschwunden ist? Was, wenn alles aus ist?

 

Mit diesem unguten Gefühl bin ich nicht allein. Vorm Sterben fürchten sich 72 Prozent der 18- bis 29-Jährigen, das ergab eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa aus Erfurt. Obwohl allgemein nach dem Sterben gefragt wurde und nicht nach dem Todsein, gehen die Meinungsforscher davon aus, dass die Angst vor der Endlichkeit bei den Befragten eine Rolle spielt. Bei mir kommt diese Angst in ruhigen Momenten auf. Ich schüttele dann ungläubig den Kopf, eine innere Unruhe zieht durch meinen Körper. Der Tod ist für mich unfassbar.

Mein ungutes Gefühl hängt damit zusammen, dass der Tod in unserer westlichen Kultur lange – nun ja – totgeschwiegen wurde. So sieht das Professor Norbert Fischer vom Institut für Volkskunde der Universität Hamburg. Er ist Sozial- und Kulturhistoriker und forscht zum Umgang mit dem Tod. Fischer sagt, die Menschen fürchteten sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert verstärkt vor dem Tod, seit jener Zeit also, als das „geschlossene christliche Weltbild“ aufbrach und die Deutung des Todes nicht mehr allein den Kirchen überlassen wurde.

„Früher legte man seinen eigenen Tod in Gottes Hand und sagte: Das kann ich nicht beeinflussen“, erklärt Fischer. In der Moderne habe sich das aber verändert: „Mediziner entwickelten Medikamente, es entstanden erste Krankenhäuser wie die Berliner Charité. So kam die Idee auf, dass doch nicht Gott allein alles bestimmt.“ Im 20. Jahrhundert sei der Tod dann gesellschaftlich zunehmend tabuisiert worden.

Bei uns zu Hause auch. In meinem Elternhaus sprachen wir nicht über den Tod, er wurde von uns Kindern ferngehalten. Beerdigungen von Verwandten durften wir schwänzen, unsere Eltern ersparten uns das Thema, soweit ich mich erinnere. Und ich habe nicht nachgefragt. Eine Leiche habe ich bis heute noch nie gesehen, und auch an einem Sterbebett habe ich noch nie gestanden. Meine Verwandtschaft ist klein, die letzte Beerdigung liegt Jahre zurück. Der Tod ist für mich weit weg. Ich bin nun 32 Jahre alt und finde: Dem Thema Sterben kann ich nicht ewig ausweichen.

Wenn der Tod absehbar wird, ändert sich die Sicht darauf

„Seit einigen Jahren wird wieder mehr über den Tod gesprochen“, sagt Norbert Fischer. Daran habe die Hospizbewegung großen Anteil. Die Verfechter von Hospizen wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass das Sterben und der Tod ein Teil des Lebens sind – nicht zuletzt, um ein würdevolles Sterben im Kreis der Angehörigen zu fördern. Wer im Hospiz arbeitet, kennt den Tod. Also verabrede ich mich mit dem Pfarrer Reinhold Dietrich, dem Seelsorger des Evangelischen Hospizes in Frankfurt am Main. Er begleitet schwer kranke Menschen über Monate, spricht mit ihnen über das Sterben, den Tod und ihre Sorgen. In Dietrichs Büro plätschert ein kleiner Zimmerbrunnen, das Licht ist gedimmt, es ist warm, der Fußboden aus Holz. Man fühlt sich sofort wohl.

Dietrich hat beobachtet, dass der Wille zum Leben stark von der Lebensqualität abhängt, und das sei nicht vom Alter abhängig. Wem es gesundheitlich immer schlechter gehe, der sei irgendwann „lebensmüde“, für den bedeute der Tod eher Erlösung und keine Bedrohung mehr. „Angst vor dem Tod hat eher, wer sich theoretisch damit beschäftigt“, sagt Dietrich. „Wenn der Tod absehbar ist, dann ändert sich die Sicht darauf. Das können Sie nicht nachvollziehen – und ich auch kaum.“

Dietrich sagt: „Manchen fällt der Abschied ganz schwer, andere tun sich damit leichter.“ Es könne helfen, den Tod als einen letzten Abschied zu begreifen, als eine große Aufgabe, die man annehme, auch wenn man davor „ein bisschen Bammel“ habe. Das Akzeptieren des eigenen Todes sei ein lebenslanger Prozess. Der Glaube könne helfen, aber Religiosität sei längst keine Garantie dafür, einfacher aus dem Leben zu gehen.

 

Wie der einzelne Mensch die Aussicht seines eigenen Todes wahrnimmt und sich dazu verhält, darüber weiß in Deutschland kaum jemand mehr als der Psychologieprofessor Joachim Wittkowski aus Würzburg, der seit den 1970er-Jahren zum „Umgang mit dem Tod“ forscht. Er erklärt mir, wie meine Angst entstanden ist und weshalb sie in meinem Alter nicht ungewöhnlich ist: „Im Alter von acht bis zehn Jahren verstehen Kinder den Tod im erwachsenen Sinn, also naturwissenschaftlich. Sie wissen dann, dass Zeit linear ist und der Tod irreversibel – wer tot ist, bleibt tot. Dieses Verständnis kann ängstigen.“

Ein Erklärungsansatz für die Stärke der Angst vor dem Verlust des eigenen Lebens, also vor dem Totsein, ist die „Bindung an die Welt“, erklärt Wittkowski. Sie sei je nach Lebensabschnitt sehr unterschiedlich: Junge Erwachsene sowie Menschen um die 40 Jahre seien besonders stark ans Leben gebunden, denn in diesem Alter baue man sich ein eigenes Leben auf, schmiede Pläne, gehe Beziehungen ein. Ein paar Jahre später dann stehe man mitten im Leben und trage Verantwortung für die Familie, aber auch im Beruf. Ältere Menschen schrecke der Verlust des eigenen Lebens nicht mehr so sehr. „Ältere Menschen spüren den körperlichen Abbau und wissen, dass sie ihr Leben gelebt haben“, erklärt Wittkowski. Die Bindung zum Leben werde lockerer, man sei im Alter lebenssatt.

Ich erinnere mich an meine Oma, die mit 94 Jahren starb. In den zwei Jahren vor ihrem Tod wurde sie körperlich immer schwächer und sagte öfters: „Warum lässt Gott mich nicht sterben?“ Sie hatte ein langes Leben als Bäuerin mit harter Arbeit und schönen Momenten gelebt, aber auch die zwei Weltkriege und den Verlust vieler geliebter Menschen durchgemacht. Sie war lebenssatt, sie scheint mir ein gutes Beispiel für Wittkowskis Erklärung. Meine Oma forderte den Tod am Ende geradezu. Und auch der Hinweis von Pfarrer Dietrich traf bei meiner Oma zu: Für sie bedeutete der Tod Erlösung, keine Bedrohung mehr.

Aber wenn man vom Alter mal absieht – was kennzeichnet Menschen, denen angesichts der eigenen Vergänglichkeit besonders angst und bange wird? Wissenschaftler haben laut Wittkowski herausgefunden, dass eher diejenigen den Tod fürchten, die aus persönlichkeitspsychologischer Sicht insgesamt ängstlicher sind: „Wer eher dazu neigt, Ereignisse als bedrohlich zu empfinden, hat auch mehr Angst, andere reagieren nicht so stark darauf.“ Diese emotionale Erregbarkeit sei auch genetisch bedingt. Zusätzlich wirkten sich Erfahrungen aus der frühen Kindheit aus.

Ich gebe es zu: Ich bin ein Typ, der sich hin und wieder zu viele Gedanken macht. Ich bin nicht ständig ängstlich, aber ich habe Freunde, die spontaner sind als ich, sich eher in Abenteuer stürzen, während ich mehrmals abwäge und mir ausmale, was passieren könnte. Die Beschreibung von Professor Wittkowski passt zu mir.

„Death Education“ statt tödlicher Langeweile im Unterricht

Wittkowski gibt mir den Rat, den eigenen Tod nicht beiseitezuschieben, sondern bewusst mit der Endlichkeit umzugehen und den Tod als natürlichen Teil des Lebens zu betrachten. Aus seiner Sicht gehöre eine gewisse Beunruhigung zum Leben dazu. Und ich denke: Ja, etwas Bammel gehört also offenbar dazu. Ich muss mich aber auch nicht verrückt machen.

Norbert Fischer, der zur Kulturgeschichte des Todes forscht, würde es begrüßen, wenn der Umgang mit dem Tod auch in der Schule thematisiert würde. In England und Japan gebe es eine „Death Education“, in der über den Tod gesprochen wird. Fischer vergleicht diese Aufklärungsarbeit mit der Enttabuisierung der Sexualität in den 70er-Jahren. „Deutschland hinkt beim Umgang mit dem Tod im Vergleich zu anderen Ländern noch hinterher“, sagt er.

Tatsächlich nimmt mir das Wissen der Experten und das Nachdenken über den Tod ein Stück weit die Angst vor ihm. Ich empfinde den Tod immer noch als unerfreulich, aber auch als eine große Herausforderung, der ich mich irgendwann werde stellen müssen, als eine letzte große Aufgabe. Und die will ich dann gut erledigen.

Die Fotos sind in Tasiilaq an der Ostküste von Grönland entstanden. Den Menschen der Urbevölkerung Inuit, die in diesem besonders einsamen Landstrich zum Teil noch als traditionelle Jäger leben, sagt man einen sehr gelassenen Umgang mit dem Tod nach. So sagen sie am Abend vor dem Schlafengehen: Ilannga adivanniaana – ich nehme jetzt ein Stück von meinem Leben weg.

 

Felix Ehring lebt in Frankfurt am Main und schreibt als freier Journalist für Die Zeit, die Tageszeitung, Spiegel Online, Das Parlament und viele andere. Mit anderen Worten: Er steht voll im Leben. Wohl auch deshalb mag er sich den eigenen Tod so gar nicht vorstellen. www.felix-ehring.de