Matthias ist 20 und wohnt in Frankfurt/Oder in einem Plattenbau mit Aussicht auf eine große Kreuzung und einen McDonald’s. Zwar hat er eine eigene Wohnung, aber das Essen in seinem Kühlschrank stammt nach wie vor aus Carepaketen, die seine Mutter vorbeibringt. Zwar hat er einen ziemlich coolen Job als Texter in der Agentur seines Schulfreunds Fliege, aber gleichzeitig ist das Leben voller Härte, denn es gibt in Frankfurt zu viele Nazis. Als Matthias denen eines Abends mit einem blöden Spruch kommt, wird er krankenhausreif geschlagen, und seitdem hat er Angst. Aber die hat er vor vielen Dingen.
Der erste Roman des Journalisten Christian Bangel (geboren 1979 in Frankfurt/Oder) ist gewissermaßen ein historisches Werk, denn „Oder Florida“ spielt im Jahr 1998, ohne romantisierende (N)Ostalgie, dafür mit einer gekonnten Mischung aus Witz und Wehmut. Acht Jahre nach der Wiedervereinigung stehen sich Ossis und Wessis voller Misstrauen und Vorurteile gegenüber, Helmut Kohl ist noch Kanzler, aber Gerhard Schröder lacht schon von den Wahlplakaten. Im äußersten Osten Deutschlands fühlt man sich vom Westen hängen gelassen, aber wenn man 20 ist, scheint das Leben ein weites Feld voller Möglichkeiten.
Der SPD-Millionär greift nach der Macht
Matthias’ Freund Fliege jedenfalls sprudelt nur so vor Ideen. Ursprünglich Hausbesetzer, jetzt Unternehmer, will Fliege in die Politik. Er organisiert einen Masseneintritt in die SPD und plant, den größten Investor der Stadt, Günther Franziskus, zum SPD-Kandidaten für die Bürgermeisterwahl aufzubauen. Matthias fällt der Posten des Pressesprechers zu. Leider ist Herr Franziskus als Großkapitalist nicht wirklich SPD-kompatibel und bestreitet seinen Wahlkampf vorwiegend mit Wählerbeschimpfung, denn er hält seine Landsleute für faul und wehleidig.
Das gilt eigentlich auch für Matthias. Trotzdem bietet der Investor dem jungen Mann nach verlorener Wahl einen verlockenden Deal an: Matthias soll ihm helfen, in Florida einen großen Heimtiermarkt zu eröffnen. Dazu muss er zuerst nach Westdeutschland und das Business von der Pike auf lernen. So landet Matthias in Hamburg, obwohl seine große Liebe Nadja doch in Berlin lebt …
Ekstase im supergeheimen Club
Und jetzt ist eine kleine Einschränkung des vorher Behaupteten fällig. Natürlich kann es nicht völlig ohne Nostalgie abgehen, wenn einer einen – vermutlich ziemlich autobiografischen – Roman über verflossene Jugendzeiten schreibt. Besonders das Kapitel, das in Berlin spielt, ist verdammt romantisch geraten. Nadja und Matthias fahren ohne Geld und Gepäck in die große Stadt, wo irgendwelche Irren öffentlich in Friedrichshain kopulieren, wo Matthias in einem supergeheimen Club in ekstatischen Tanz- und vielleicht Drogenrausch gerät, wo ein Baukran am Potsdamer Platz erklommen werden muss, um das Lebensgefühl der gefährlichen Großstadt zu erspüren.
Das ist alles dick aufgetragen, aber nun ja, schließlich geht es hier auch mal um echte Gefühle, denn Nadja ist Matthias’ große Liebe, und dass sie unerreichbar, weil ohne Handy, ausgerechnet in Berlin lebt, macht sie umso begehrenswerter. Matthias aber ist einer, der seine eigene Richtung noch nicht gefunden hat, der sich mitziehen lässt von den anderen, die wissen, wo es langgeht, oder die halt einfach so den Weg bestimmen. Alle sind freundlich satirisch überzeichnet, Besserwessi-Autonome, Ossi-Kapitalisten, Nazi-Dumpfbacken, und nicht zuletzt Matthias’ Wendeverlierer-Eltern mit ihren miesen Nachwendejobs, wobei zumindest die Mutter im Callcenter das Beste daraus zu machen versucht. Was für eine merkwürdige Zeit das damals doch war in den 1990er-Jahren in Frankfurt/Oder und anderswo.
Titelbild: Michael Trippel/laif