Im Jahr 1843 geschah in Kanada ein besonders brutaler Doppelmord an einem wohlhabenden Landbesitzer und seiner Haushälterin. Zwei der Hausangestellten wurden in einem spektakulären Prozess schuldig gesprochen, der Diener James MacDermott und das Hausmädchen Grace Marks. Der Mann wurde gehängt, die Frau zu lebenslanger Haft verurteilt.
Was damals wirklich passierte, wird die Welt niemals wissen. Doch Fälle wie dieser beschäftigen natürlich sehr lange die kollektive Fantasie – und die individuelle Fantasie der Kreativen. Die Autorin Margaret Atwood war nicht die Erste, die über Grace Marks schrieb. Aber mit ihrem preisgekrönten Roman „Alias Grace“, der 1996 erschien, zog die Geschichte des mörderischen Dienstmädchens weite Kreise. Jetzt umso mehr, da die sechsteilige Serie auf Netflix läuft. Es ist schon die zweite Atwood-Verfilmung in diesem Jahr, „Der Report der Magd “ lief im Oktober auf Telekom Entertain an.
Etliche der zentralen Serien- bzw. Romancharaktere sind rein fiktional, darunter auch die männliche Hauptfigur: Der junge Arzt Dr. Jordan (Edward Holcroft), der sich auf „Krankheiten der Seele“ spezialisiert hat, wird von einem Bürgerkomitee, das für Grace Marks (Sarah Gadon) nach 16 Jahren Gefängnis eine Begnadigung erwirken will, gebeten, ein für die Gefangene günstiges Gutachten zu erstellen. Dr. Jordan nimmt seine Aufgabe sehr ernst und will sich keinesfalls beeinflussen lassen. Täglich besucht er die junge Frau im Haus des Gouverneurs, wo Grace unter Aufsicht als Dienstmädchen arbeitet, und lässt sich ihre Sicht der Dinge erzählen.
Gegen seinen Willen verfällt er ihrem zurückhaltenden Charme. Grace hat, obwohl sie nur die erste Hälfte ihres Lebens in Freiheit verbringen konnte, viel zu berichten, angefangen bei der höllischen Überfahrt aus Irland über den Atlantik, bei der ihre Mutter stirbt. Angekommen in Kanada, geht sie früh arbeiten, um ihrem trunksüchtigen Vater zu entkommen, und findet in ihrer Zimmergenossin eine beste Freundin: Mary Whitney (Rebecca Liddiard), ein mitreißend temperamentvolles junges Mädchen, das von einer besseren Zukunft träumt. Ihre Träume enden auf grausame Weise, als Mary vom Sohn des Hauses schwanger wird und nach einer Abtreibung stirbt. Grace erleidet einen schweren Schock.
Spuk oder Schizophrenie?
Die Stärke der Serie zeigt sich in Szenen wie jener kurz nach Marys Tod, als Grace zum ersten Mal eine Stimme in ihrem Kopf hört. Es ist die Stimme Marys, die sagt: „Let me in!“ Erschrocken öffnet Grace das Fenster. Doch da ist es schon zu spät …
Es deutet sich hier bereits eine mögliche Erklärung für Dinge an, die später in Grace’ Leben passieren. Aber so ergreifend die Szene ist, so wenig verfällt die Inszenierung der Versuchung, das Geschehen in die eine oder andere Richtung zu deuten. Ob man an die Anwesenheit eines Geistes in der Story glauben will oder eine beginnende Schizophrenie diagnostiziert, ist den Zuschauern selbst überlassen. Auch später bleibt es bei Andeutungen. Jemand erzählt, dass Grace häufig mit sich selbst spreche. Sie selbst berichtet dem Arzt von Träumen und Schlafwandeln. Der Mord und was davor und danach geschah, werden in verschiedenen Erzählvarianten vorgeführt.
Mit unserem heutigen Wissen können wir am Ende annähernd sicher sein, wie es gewesen sein muss (zumindest in dieser fiktionalen Variante der Geschichte). Im Viktorianischen Zeitalter dagegen war es naheliegender, an Geister zu glauben, als eine Identitätsstörung zu akzeptieren. Selbst der Arzt, der angetreten ist, Grace’ Geisteszustand objektiv zu beurteilen, verzweifelt an der schockierenden Verwandlung, die eine Hypnose bei Grace zutage treten lässt. Letztlich leidet er selbst an einer Art Persönlichkeitsspaltung: jener zwischen dem rationalen Wissenschaftler, der zu sein er eigentlich entschlossen ist, und dem geborenen Romantiker, der sich rettungslos in die sanfte Schönheit einer Frau verliebt hat und rohe menschliche Triebe auch bei sich selbst nicht recht wahrhaben will.
Schock in schöner viktorianischer Kulisse
Diese Ambivalenz, die praktisch alles und alle durchzieht, macht „Alias Grace“ so fesselnd. Gut und Böse gibt es hier nicht, jedenfalls können sie nicht klar voneinander getrennt werden. Echte Güte ist nur schwer von vorgetäuschter zu unterscheiden und kann schnell wieder verfliegen. Auf der anderen Seite sind auch die vermeintlich größten Schufte sehr oft durch äußere Umstände dazu geworden. Wir fühlen mit Grace, werden aber im Laufe der Serie immer unsicherer, ob ihren Erzählungen zu trauen ist.
Diese grundlegende Verunsicherung ist gruselig genug, zusätzliches Gothic-Brimborium braucht es hier nicht. Ganz im Gegenteil: Die Serie konterkariert die Düsterkeit der Erzählung mit der visuell größtmöglichen Klarheit und Helligkeit. Die Bilder sind lichtdurchflutet, die Farben leuchten, die Menschen sind schön. Die ganze gefilmte Zeit hindurch herrscht Sommer; fast meint man, Blumenduft zu riechen. Das viele vergossene Blut wird dagegen kaum gezeigt. Nur hier und da zerreißt brutale Gewalt die ästhetische viktorianische Kulisse.
Foto: Netflix