Ist eine Serie „feministisch“, wenn etwa die Hälfte aller Charaktere weiblich ist? Wenn gleichzeitig die Hälfte der Hauptrollen mit Männern besetzt ist? Und nur 27 Prozent der Dialoge der ersten Folge von Frauen stammen, wie ein Twitter-User nachgezählt hat? Wohl eher nicht. Weil die neue Serie „Godless“ von Netflix offensiv unter dem Feminismus-Label beworben wurde („Welcome to No Man’s Land“), hat sie für einigen Unmut gesorgt (etwa hier, hier und hier). Sogar Regisseur Frank Scott sah sich genötigt zu erklären, dass er die Serie nie als feministisches Statement angelegt habe. Eigentlich schade. Denn durch die Marketingkampagne werden Erwartungen enttäuscht, die man gar nicht hätte wecken müssen. „Godless“ hat das nämlich nicht nötig.
Die Welt des Wilden Westens war, klar, eine männlich dominierte, daran ändern auch einzelne legendäre Revolverheldinnen wie Calamity Jane nichts. Und im klassischen Westernfilm sind Frauen traditionell auf sehr wenige Rollenmuster festgelegt. „Godless“, die erste Western-Serie auf Netflix, produziert von Oscar-Preisträger Steven Soderbergh, leistet also einiges für die Modernisierung des Genres, als Frauen darin in großer Zahl und in allen möglichen sozialen Rollen gezeigt werden. Aber auch andere im Western unterrepräsentierte Gruppen erfahren verstärkte Beachtung. Ein Dorf von afroamerikanischen ehemaligen Soldaten etwa ist ein wichtiger Nebenschauplatz. Und sogar die traditionellen männlichen Helden- und Schurkenrollen werden einer – vorsichtigen – Neubewertung unterzogen.
Die Siedlung La Belle ist um eine Silbermine herum entstanden, in deren Bergwerk es zu einem schrecklichen Unglück gekommen ist. Seitdem leben fast nur Frauen in dem Ort, abgesehen von einigen wenigen Männern, darunter Sheriff Bill McNue (Scoot McNairy) und sein Deputy Whitey Winn (Thomas Brodie-Sangster). McNue kann nicht mehr schießen, da er allmählich blind wird, und Whitey ist ein guter Junge, aber nicht sehr helle im Kopf. Die Schwester des Sheriffs, Maggie (Merritt Wever), die nach dem Tod ihres Mannes dessen Kleidung trägt und eine Frau liebt, übt im Ort faktisch das Amt der Bürgermeisterin aus. Die Frauen zimmern emsig an einem großen Baugerüst, das eines Tages ihre Kirche werden soll, und warten schon lange vergeblich auf den versprochenen Pfarrer.
Von wegen „God's own country“: In LaBelle gilt das Recht des Stärkeren. Und sonst nichts.
Von „God’s own country“, der patriotischen Selbstbezeichnung Amerikas, fehlt auch sonst jede Spur. In „Godless“ gilt neben dem Recht des Stärkeren keinerlei gerechte höhere Ordnung. Zivilisatorische Bemühungen konnten jederzeit von jeder Moral fernen Bösewichten zunichtegemacht werden. Die Menschen sind auf sich allein gestellt, wodurch die individuelle Stärke der Einzelnen umso mehr hervortritt.
Auf einem einsam gelegenen Hof in der Nähe von La Belle, der von der Witwe Alice (Michelle Dockery) mit ihrem Sohn und ihrer indianischen Schwiegermutter (Tantoo Cardinal) bewohnt wird, strandet derweil ein gesuchter Räuber. Roy Goode (Jack O’Connell) hat sich gegen seinen Räuberhauptmann Frank Griffin aufgelehnt und wird nun von dessen Bande gejagt. Als ein skrupelloser Journalist spitzkriegt, dass Goode sich in La Belle aufhält, veröffentlicht er einen Artikel, mit dem er den Ort und seine Bewohnerinnen der sicheren Vernichtung preisgibt. Denn Griffin und seine Bande haben wegen Roy Goode bereits eine andere Stadt in Schutt und Asche gelegt und fast alle ihre Bewohner massakriert.
Es fließt reichlich Theaterblut
Die Handlung ist, dieser Abriss lässt es erkennen, absolutely textbook: ein traditioneller Westernplot, in dem es einen Helden, einen Schurken, einen Sheriff und vielleicht auch noch eine schöne Frau als Hauptfiguren gibt. Durch das Serien-Format öffnet sich allerdings ein Erzählhorizont weit über die engen Grenzen des Genres hinaus. Während das Bedrohungsszenario sich über sieben Folgen hin zum großen Showdown entwickelt, bleibt Zeit, die handelnden Personen kennenzulernen. Auf die Vorgeschichte Roy Goodes (der Name ist Programm), des elternlosen Pferdeflüsterers, der als Junge zum Räuber wurde und sich selbst aus den Fängen des Bösen befreite, wird viel erzählerische Sorgfalt verwendet. Etwas kürzer kommen die schöne Alice und Sheriff Bill McNue weg, die auf ihre Weise beide die menschliche Würde inmitten von antizivilisatorischen Bedrohungen verkörpern. Die beiden anderen stärksten Charaktere des Ortes sind Maggie McNue und ihre sehr freigeistige Geliebte, die als Hure reich wurde und nun Kindern das Lesen und Schreiben beibringt. Als Person eher geheimnisvoll bleibt der Schurke: Der so charismatische wie grausame Griffin (sensationell gespielt von einem graubärtigen Jeff Daniels) trägt einen Priesterkragen und führt seine Bande wie eine Sekte.
Was „Godless“ von anderen Western unterscheidet, ist die Darstellung der Gewalt. Sie wird, einerseits, nicht nur von ferne gezeigt. Theaterblut fließt reichlich, tote Körper pflastern gegen Ende den Bildschirm. Aber anders als etwa in den Italo-Western Sergio Leones dient die detaillierte Darstellung menschlicher Verletzlichkeit hier nicht einer von Faszination gespeisten Ästhetisierung, sondern eher einer um Realismus bemühten Annäherung an das echte Grauen von Mord und Totschlag. Ein finsterer running gag ist in diesem Zusammenhang der Arm, der Griffin zu Beginn amputiert werden muss. Der Bandenführer wird ihn die ganze Serie über als eine Art Orakel mit sich herumschleppen, obwohl das faulige, stinkende Gewebe Unmengen Ungeziefer anzieht.
Diese Art schwarzen Humors durchsprenkelt hier und da die zahlreichen Erzählschichten von „Godless“; ein bisschen so, wie Schokosplitter einem köstlichen Kuchen den letzten Kick geben. In einer dieser Schichten, einer der obersten sogar, steckt eine ordentliche Prise Feminismus. Aber letztlich sind es viele verschiedene Zutaten, die hier eine bewährte Form in neuer Kombination ausfüllen. Es bleibt, was es ist: ein Western.
„Godless“ läuft auf Netflix
Foto: Netflix