Im März sprossen sie fast zeitgleich mit den Narzissen und ähnlich zahlreich aus dem Boden: Podcasts, (Live-)Streams, Blogs. Mit Ausbruch der Pandemie und während ihres weiteren Verlaufs entstanden Unmengen neuer Medienproduktionen, die inhaltlich und qualitativ ein breites Spektrum abdecken. Unsere Autorin hat gebingewatcht, -gehört und -gelesen.
Gaming und Feminismus: Twitch-Kanal „Shurjoka“
Über 90.000 Follower*innen verzeichnet Pia Scholz’ Twitch-Kanal „Shurjoka“ mittlerweile. Die 22-Jährige streamt nicht erst seit Corona, schon seit fünf Jahren geht sie auf der Plattform regelmäßig live. Der Streamingservice verzeichnet seit Ausbruch der Pandemie erheblichen Zuwachs an Zuschauer*innen, und so profitieren auch die einzelnen Channels wie der von Scholz, die mittlerweile zu den erfolgreichsten Streamerinnen Österreichs zählt. Scholz’ Kanal ist dem Variety-Streaming zuzuordnen, das heißt, sie fokussiert sich nicht auf ein Spiel oder Genre, sondern stellt sowohl Story-Games als auch Strategiespiele vor. Daneben äußert sich die Grazerin in ihren Videos immer wieder politisch und gesellschaftskritisch. In Videos, die der sogenannten „Just Chatting“-Kategorie zugeordnet werden (also Streams, in denen die Hosts in YouTube-Style Angelegenheiten abseits der Gaming-Welten besprechen oder auf Fragen aus der Community eingehen), rückt sie vornehmlich ein Thema in den Fokus: Sexismus. Sich als Frau fürs Spielen zu interessieren und darüber hinaus in der Gaming-Szene und auf der männerdominierten Plattform Twitch unterwegs zu sein, das wäre für viele männliche User wahrscheinlich schon provokativ genug. Scholz geht aber noch weiter. Sie thematisiert Ungleichheiten, Hasskommentare und Körperlichkeit im Netz, reflektiert Geschlechterklischees und Misogynie (Frauenfeindlichkeit), die sie online und offline erlebt. Cool für alle, die sich für Gaming interessieren, aber auch cool für die, die es nicht tun.
Kollektives Tagebuch: der Blog „Soziale Distanz“
Gerade während der ersten Pandemiewochen verfielen viele von uns zwangsläufig in einen Modus des Rückzugs und der Selbstreflexion. In der Kombination aus Vereinzelung und allumgreifender Ausnahmesituation, zwischen Dokumentationswillen und dem Drang nach Aufarbeitung lag es nicht fern, das zu tun, wozu im sonst hektischen Alltag oft keine Zeit oder Muße ist: Es wurde Corona-Tagebuch geführt. Während sich viele dieser Onlineprojekte retrospektiv hauptsächlich um eigene Befindlichkeiten drehen, ist das kollektive Tagebuch „Soziale Distanz“ des Feuilletonblogs „54books“ nach wie vor eine spannende Lektüre. Wenn man möchte, kann man die Einträge als junge Zeitdokumente beziehungsweise eklektisches Archiv des flüchtigen Echos in den sozialen Medien zu Beginn der Corona-Pandemie lesen. Insgesamt 29 Autor*innen – unter anderem Andrea Geier, Johannes Franzen oder Berit Glanz – sammelten über Wochen ihre Eindrücke in Form von kürzeren Gedankenfragmenten sowie eigener und fremder Tweets. Das Ziel: festhalten, wie das Virus unser Leben, unsere Vorstellungen von Gesellschaft oder die Sprache verändert. Die Texte über soziale Distanz und sozialmediale Nähe sind mittlerweile auch als vollständige Leseversion zugänglich.
Musik und Clubkultur: „United We Stream“
Das Nachtleben leidet. Clubbetreiber*innen, Konzertveranstalter*innen, Musiker*innen und DJs sind diejenigen, die die Krise am härtesten trifft und vermutlich noch am längsten treffen wird. Im März und April keimte daher die Idee, Künstler*innen und Veranstalter*innen zu unterstützen, indem DJ-Sets oder Konzerte aus den Clubs live in die WG-Küchen und Wohnzimmer gestreamt werden. In Deutschland ging als größte Aktion „United We Stream“ hervor, eine Zusammenarbeit der Clubcommission Berlin e.V. und Reclaim Club Culture sowie Arte, die vor allem DJ-Sets aus bekannten Berliner Clubs wie dem Watergate oder der Griessmuehle sendeten. Während der Streams können Zusehende über eine Fundraising-Plattform einen beliebigen Betrag für Berliner Clubs spenden.
Zeitweise schlossen sich auch andere Städte in Deutschland und der ganzen Welt an. Im Sommer entstand das „United We Stream Festival“ mit Streams aus außergewöhnlichen Locations wie dem Berliner Botanischen Garten. So rühmlich die Idee des „größten virtuellen Clubs der Welt“ ist – eine Party oder ein Konzert lebt vor allem durch die Interaktion mit dem Publikum, die Atmosphäre und das Erlebnis. Das wurde dabei klarer denn je. Die Boilerroomisierung der Clubkultur und ein*e einsame*r DJ hinterm Pult sind auf Dauer leider noch trauriger als gar kein Abendprogramm.
Feuilleton als Podcast: „Die sogenannte Gegenwart“
Rein definitorisch umfasst sie nicht mehr als drei Sekunden. Allerdings ist das, was unsere Gegenwart ausmacht, nicht nur ein Thema der Naturwissenschaften. Auch Kunst und Literatur arbeiten sich stetig am Versuch der ästhetischen Darstellung eines wie immer gearteten „Jetzt“ ab. Die „Zeit“-Redakteur*innen Nina Pauer, Lars Weisbrod und Ijoma Mangold sind im Juli eingestiegen und widmen sich der Gegenwartsfrage seitdem von feuilletonistischer Warte. In zweiwöchigem Rhythmus und wechselnder Zusammensetzung besprechen sie nicht nur Literatur, Filme, Musik oder Serien in puncto ex- und impliziter Gegenwartsschwingungen. Sie werfen einen ganzheitlichen und zeitweise unterhaltenden Blick auf das, was das Jetzt ausmacht. Während jede Folge unter einem bestimmten Thema steht, tauschen die Hosts in der am Anfang stehenden Rubrik „Gegenwartscheck“ Ausdrücke, Praktiken oder Trends aus, die etwas über die Gegenwart aussagen könnten: Es geht ums Fermentieren, Wokeness, Trekkingsandalen oder kleine Schreibtische. Das Ganze ist locker gehalten und erfrischend konfrontativ. Nur manchmal rutscht es meiner Meinung nach ins Biedere, etwa wenn die Kritik an Intersektionalität wenig fundiert ist oder das Wort „nice“ als charakteristische Gegenwartsvokabel der Anmut festgelegt wird. Zumindest niemand, den ich kenne und der unter 30 ist, verwendet seit 2017 „nice“ als Ausdruck von echter Anmut, sondern wenn, dann als postironischen Boomerkommentar oder emotionsloses Füllwort.
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Titelbild: Hahn&Hartung