Auf dem Schiff, das südlich vom Packeis auf der eisigen Dünung der Beringsee rollte, wurde an einem Abend im Sommer des Jahres 1778 ein raffiniertes Gericht serviert. Den Seeleuten wurde einerseits Sauerkraut vorgesetzt, das kannte man ja noch, das futterte man seit Monaten, davon dümpelten 60 Fässer unten im Laderaum der »HMS Resolution«. Dazu aber wurde ein empörendes Unding serviert, ein monströses Etwas aus lichtlosen Tiefen: ein Walross. Nur der Kapitän hielt nahrhaftes Fett für nahrhaftes Fett und notierte lobend in seinem Logbuch, gebraten sei das Fleisch »so gut wie Knochenmark«. Seine Mannschaft dagegen soll kurz vor der Meuterei gestanden haben.
Wenn es jemanden gibt, mit dem man sich heute trefflich über kulinarische Kolonisationen unterhalten könnte, dann den vor genau 230 Jahren gestorbenen Entdecker James Cook. Oder, besser noch, sein Koch und Smutje. Faulendes Wasser und madenverseuchter Zwieback gehörten hier zum täglich Brot, und der Begriff »Smutje« leitet sich nicht zufällig von »Schmutz« ab. Dem von Engländern gefürchteten Sauerkraut war es zu verdanken, dass er keinen Mann an die »Mundfäule« verlor. Deshalb hatte der Kapitän auch bei früheren Reisen bei den »Wilden« auf manchenAtollen mitgeführte Ziegen und Schweine zurückgelassen, um sie später schlachten zu können. Zu verführerisch war die Aussicht, am anderen Ende der Welt über einen Vorrat von aus heimischen Küchen gewohnten Frischfleisch zu verfügen – statt auf so höllische Geschöpfe wie das Walross zurückgreifen zu müssen.
Schließlich ist es kein Wunder, dasskörperliche Abneigung gerade dort am größten ist, wo wir unserem Körper körperfremde Substanzen organischen Ursprungs zuführen: beim Essen. Ekel und Genuss sind eben sehr, sehr seltsame Brüder. Beide haben ihren Ursprung buchstäblich in unserem Kopf, im Temporallappen, wie Mediziner sagen. Dieser Kernbereich unseres Gehirns verarbeitet externe Impulse und leitet vegetative Reaktionen ein, also solche, gegen die wir uns kaum wehren können. Er spielt eine wesentliche Rolle bei jeder Form von Wahrnehmung, sei sie nun lustbetont oder Ekel erregend. Wir reagieren auf diese Wahrnehmung nicht instinktiv, das wäre genetisch bedingt, sondern affektiv. Also genau so, wie es uns in unserem Kulturkreis anerzogen worden, wie es diesem Kulturkreis gemäß ist. Dabei ist es also nur eine Frage der Prägung, ob mir vor den Eiern von Hühnern graust – oder vor denen von Krokodilen.
Kompliziert wird die Sache, wenn sich die Kulturen überschneiden, wenn sie Kolonien bilden und Tür an Tür miteinander existieren. Wie der evolutionsbiologisch sinnvolle Ekel sich in Zeiten der Globalisierung in eine Form von futterneidischer Fremdenfeindlichkeit verwandeln konnte, das hat der US-amerikanische Ernährungspsychologe Paul Rozin einmal so beschrieben: »Ein Mechanismus zur Vermeidung von Schäden für den Körper wurde zu einem Mechanismus zur Vermeidung von Schäden für die Seele. Die Ekelauslöser könnten sich so vervielfältigt haben bis zu dem Punkt, dass ihre einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass anständige Leute damit nichts zu tun haben wollen. Auf dieser Ebene wird Ekel zu einer moralischen Emotion und einer machtvollen Form von negativer Sozialisation.«
In der Not, heißt es, frisst der Teufel Fliegen. Und der Teufel, das ist immer der andere, das Fremde. Seltsam kalt lassen uns krude Essgewohnheiten immer dann, wenn sie aus dem eigenen Kulturkreis stammen. Auf den Färöern gelten gekochte Schafsköpfe als Genuss, in Schweden liebt man vergorenen Fisch, in Frankreich futtern Genießer die Schenkel von Fröschen und auf Sardinien Schafskäse mit lebendigen Maden. In Thüringen gilt ein Käse als Spezialität, der durch den Speichel von Milben, also Spinnentieren, fermentiert wird. Und aus dem nördlichen Hessen sind aus den Zwanzigerjahren noch Rezepte für Maikäfersuppe erhalten. Das sind allesamt kulinarische Kuriositäten, lokale europäische Spinnereien, die uns höchstens ein Kopfschütteln entlocken – während es uns regelrecht auf die Barrikaden bringt und gelegentlich sogar zu diplomatischen Verwicklungen führt, dass in Japan manchmal so entzückende Kreaturen wie Delfine und in China bisweilen sogar Hunde auf dem Speiseplan stehen. Einen festen Standpunkt gibt es nicht: Reptilien zu verspeisen, wie es in manchen asiatischen Ländern üblich ist, verstößt in der westlichen Welt gegen ein kategorisches Nahrungstabu – das aber auch nur so irrational ist wie das Tabu in hinduistischen Kulturen, Kühe zu schlachten. Und leuchtet der asiatische Standpunkt nicht ein, bei Käse handele es sich um »verschimmelte Milch«?
Der Genuss von frittierten Heuschrecken, gekochten Raupen oder kandierten Kakerlaken etwa wird hierzulande in TV-Sendungen gerne als »Mutprobe« zelebriert. Dabei handelt es sich in Wahrheit weniger um Mut oder das Überwinden von Ekel – sondern um eine unterhaltsame Form, sich symbolisch von einer fremden und »falschen« Esskultur zu distanzieren, um damit die »Richtigkeit« der eigenen zu demonstrieren. Daran wird auf absehbare Zeit auch ein gemeinsamer Weltmarkt nichts ändern. Deshalb hat die Europäische Union eine »Verordnung für neuartige Lebensmittel« erlassen (EG-Verordnung Nr. 258/97), um dem Import kulturfremder Nahrungsmittel mit einer Art bürokratischem Immunsystem zu begegnen. Es ist nicht mehr undenkbar, Würmer oder Walrosse zu verspeisen. Nur zulassungspflichtig. Das Prinzip lautet demnach: »Ekele dich vor den Dingen, die in der Gesellschaft, in der du lebst, als ekelhaft gelten.« Ansonsten sollte, gerade zu Zeiten der Globalisierung, wenn die Gesellschaften sich kaleidoskopisch auffächern und ineinander greifen, dieses Prinzip um einen unaufgeregten Zusatz erweitert werden: essen und essen lassen.
Unser Autor Arno Frank (38) regt sich jedes Mal auf, wenn jemand über Chinesen lästert, die Hunde oder Affen essen. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass er bislang weder Robbe noch Heuschrecken gegessen hat.